Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
Vom Netzwerk:
allem Reichtum, aller Vitalität und Kreativität Wiens, es war eine Hauptstadt, die auf geborgte Zeit hin lebte, es war kein Ort, um etwas zu investieren, schon gar nicht mit dem Prunk der Hoffmann-Räume, wie sie die Gallias einrichteten. Doch bei aller Verwundbarkeit der Monarchie war ihr Schicksal 1913 noch keineswegs besiegelt, nicht einmal für so scharfe Beobachter wie Henry Wickham Steed von der Londoner
Times
. Nach zehn Jahren in Wien sah Steed keinen Grund, »warum mit etwas Voraussicht der Dynastie die Habsburgermonarchie nicht ihren rechtmäßigen Platz in der Gemeinschaft Europas beibehalten sollte«. Steed erkannte zwar, dass die Monarchie vor inneren Krisen stand, doch er argumentierte, das seien »Wachstums- statt Verfallskrisen«.
    Moriz zeigte auch noch Anfang 1914 diese Zuversicht, als die Wiener Werkstätte beinahe bankrottging, obwohl der kaufmännische Direktor Fritz Wärndorfer einen Großteil seines eigenenen Vermögens aufwendete, um sie zu erhalten. Eine Reihe Künstler und Designer, an der Spitze Josef Hoffmann, trug zur Refinanzierung bei, die meisten der frischen Gelder kamen von Hoffmanns Gönnern, darunter Moriz, der nach einer Investition von 20.000 Kronen stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats wurde. Da Wärndorfer dadurch aus der Werkstätte hinausgedrängt wurde, beschimpfte er die neuen Aktionäre, es seien »Neureiche«, die sich »sharp practices« bedienten, um mit der Werkstätte »viel Geld zu machen«. Doch während Moriz zwar hoffte, er werde die Werkstätte besser managen als Wärndorfer – der war das typische Beispiel eines Reichen der zweiten Generation, mehr dafür begabt, Geld auszugeben, als es zu vermehren –, ging es ihm nicht darum, sich zu bereichern. Wie Hoffmanns andere Mäzene, die Gesellschafter der Werkstätte wurden, sah er sich als Philanthrop; er sicherte das Überleben einer der besten Künstlervereinigungen Wiens, deren Bücher annehmen ließen, sie würden nie Gewinn erzielen. Sein Ziel war es, die Kreativität zu erhalten, nicht davon zu profitieren.
    Der Beginn des Ersten Weltkriegs machte die Aufgabe für die neuen Direktoren der Werkstätte umso schwerer, da der Markt für deren Luxusprodukte noch mehr schrumpfte. Der Krieg veränderte auch die Art und Weise, in der Familien wie die Gallias ihre Hoffmann-Räume nutzten. Solche Räume waren für Repräsentation gedacht, für große Ereignisse, sie waren auf die Annahme hin gestaltet worden, ihre Bewohner würden in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Stabilität Gastlichkeit üben wie nie zuvor. Der Krieg verhinderte das. Obwohl die Gallias keinen Anlass hatten, dies im Juli 1914 zu vermuten, waren die schönen Tage in der Straße des Wohllebens vorbei. Sie hatten nicht mehr als sechs Monate gedauert.

II

GRETL

Tagebücher
    Ich will über mein Leben schreiben.
    Ich denke oft, ich bin nur dazu da, um gequält zu werden!
    Ich führe ein sehr schönes Leben in der Mitte einer glücklichen Familie.
    Ich bin oft unliebenswürdig.
    Ich schreibe diese tragische Geschichte auf, um meine Gefühle beherrschen zu können, da ich niemandem das erzählen kann und will.
    Wenn ich größer werde, werde ich lächeln und sagen, damals war ich noch recht kindisch und dumm.
    Wie ich klein war, wollte ich heiraten, aber wer nimmt mich jetzt?
    Leider bin ich wie eine empfindliche Pflanze gleich gekränkt bei jeder Bewegung.
    Wenn ich das tue, was ich so gerne täte, so käme ich gewiß in die Hölle.
    Ich bin noch nie so ganz verstanden worden. Es ist schon oft so auf dieser Welt, denke ich mir!
    Ich bin noch sehr jung, aber ich verstehe mehr, als man glaubt, ich fühl’s.
    Gretl schrieb diese Bemerkungen als Mädchen in den Tagebüchern nieder, die sie fast ihr ganzes Leben lang führte. Sie begann mit zehn Jahren im europäischen Sommer 1906, kurz bevor sie in die Mittelschule eintrat – ein Wendepunkt im Leben österreichischer Kinder, für Gretl aber ein besonders tiefgehender, da sie bis dahin von Gouvernanten unterrichtet worden war. Und sie endete mit 77 Jahren, 1974, als sie in einem Pflegeheim in Armidale im nördlichen New South Wales lebte, obwohl sie die Wohnung in Cremorne immer noch als ihr Heim betrachtete. Die Tagebücher, die sie in den Jahren dazwischen vollschrieb – die ersten schöne, ledergebundene Bände, die letzten einfache Schulübungshefte mit Pappeinband –, lagen alle in der Wohnung, als sie 1975 starb.
    Diese Tagebücher waren nur ein Bruchteil der Papiere

Weitere Kostenlose Bücher