Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
ihre 24 Geburtstagsgeschenke 1898 auf und schloss: »Mit einem Wort: riesig viel. Verwöhnt. Und was leisten wir dafür? ... Nichts!« Gretl äußerte sich 1907 ähnlich: »Ich bekam viel zu viel für mich, unausstehlich.«
In zahlreichen anderen Einträgen verriet Gretl viel mehr von sich selbst, und diese könnten wegen Zeit und Ort der Einträge besonders interessant für eine Freudsche Analyse sein; ich habe mich hier allerdings nicht damit befasst. Einige ihrer Eintragungen waren voller Humor und Selbstironie, andere durchdrungen von heftigem Gefühl, besonders wenn es um ihre Beziehung zu Moriz und Hermine ging, die unterschiedlicher nicht hätte sein können. Mit Hermine stritt sie ständig, Moriz hingegen hob sie auf ein Podest. Nach einer besonders stürmischen Auseinandersetzung mit Hermine bemerkte Gretl am 22. August 1911: »Wenn Papa hier wäre, ginge alles besser, denn er ist gerecht.« Er war ihr »Herzallerliebstes« (ein Terminus, den man üblicherweise für einen Geliebten und nicht für einen Elternteil verwendet).
Das umfassendste Familienporträt, 1904 in Freudenthal aufgenommen, zeigt die Familien Gallia und Hamburger. Stehend von links: Hermine und Moriz, Henny, Otto und Guido Hamburger. Sitzend von links: Erni, Josefine Hamburger, Robert Hamburger, Nathan Hamburger, Gretl. Im Vordergrund Käthe und Lene.
Ihre Geschwister – besonders ihre Zwillingsschwestern Käthe und Lene – beschäftigten sie beinahe ebenso sehr. Als sie kurz nach ihrem elften Geburtstag 1907 erstmals über sie schrieb, hielt sie ihre Beziehung zu den »Kleinchen« für so eng, dass sie sonst gar keine Freundinnen brauche. Doch binnen eines Jahres war ihr klar geworden, dass sie Käthe und Lene viel schlechter behandelte als Erni, und als die Zwillinge sie daraufhin »eklig und abscheulich« nannten, zahlte sie es ihnen mit gleicher Münze zurück. Gretl beschrieb Käthe und Lene ironisch als »die Süßen« und nannte sie »gemeine Hunde«. Da Hermine keinen Versuch machte, ihre innige Beziehung zu den beiden zu verschleiern, nahm Gretls Anhänglichkeit an Moriz noch zu.
Sie befasste sich auch mit ihrem eigenen Charakter, besonders ihren Schwächen. So bemerkte sie, sie habe es zu eilig, »to call a spade a spade« – eine jener englischen Wendungen, die Wiener der oberen Klassen oft gebrauchten, um ihre Bildung und feine Lebensart zu unterstreichen –, und erkannte, dass sie für ihre Unverblümtheit und Ehrlichkeit würde bezahlen müssen. Sie wusste, »daß ich bisserl Temperament hab«, und war sehr leicht beleidigt, konnte oder wollte das aber nicht ändern. Sie akzeptierte das Urteil der anderen, dass sie schwierig und manchmal trotzig sei. Aufgebracht war sie darüber, dass ihr geliebter Vater, mehr noch als die Mutter, sie für »hochmütig & arrogant [...] & weiß Gott was noch Alles« hielt.
Ihr Gott war nicht nur dazu geneigt, einzugreifen, sondern half auch denen, die nicht an ihn glaubten, darunter Theobald Pollak, der nach Wien zurückgekehrt war, um in seiner Wohnung zu sterben, nachdem er im Sanatorium vergeblich Heilung gesucht hatte. Als Pollaks Zustand sich im Laufe des Jahres 1912 verschlechterte – es war Gretls erste Erfahrung eines langen, schmerzhaften Sterbens –, war sie so mitgenommen, ihn leiden zu sehen, dass sie ihren Herrn bat, die Sache zu beenden. Pollak starb einige Tage später im Schlaf, und Gretl schrieb ihren Gebeten die Erlösung zu, obwohl Pollak Jude geblieben war.
Ihre Unwissenheit in allem, was das Judentum betraf, zeigte sich einige Monate später, als sie ein Stück über die Rothschilds sah und voller Überraschung von dessen »ganz jüdischem Milieu« schrieb. Doch Gretl gehörte selbst einer jüdischen Gesellschaft an. Die Zahl der Jüdinnen im Frauen-Erwerb-Verein, wo sie zur Schule ging, war überdurchschnittlich hoch, da die Wiener Juden außerordentlichen Wert auf Bildung legten. Obwohl Juden nur zehn Prozent der Einwohner Wiens ausmachten, waren beinahe die Hälfte von Gretls Mitschülerinnen Jüdinnen. Altaussee zog eine Reihe wohlhabender Gäste an, darunter viele Adelige, besonders beliebt aber war es bei Wiener Juden und kürzlich Konvertierten. Einige wenige kauften Villen, die meisten nahmen sich Mietwohnungen, darunter Freud, der vier Sommer hintereinander mit seiner Familie dort verbrachte.
Gretl wurde meist wie ein Kind behandelt, auch nachdem sie 1912 die Schule beendet hatte. Als sie Anfang 1913 Lene einmal gekratzt hatte, versetzten ihr Moriz und
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