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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Beziehung zu Gretl angefacht, die fünfzehn Jahre lang seine Schwiegermutter gewesen war. Während Annes und Erics Ehe war Gretl eine seiner größten Bewunderinnen gewesen. Sie hielt ihn für einen vorbildlichen Ehemann, Vater und Schwiegersohn und wies Anne zurecht, weil diese nicht erkennen wollte, welches Glück sie gehabt hatte, ihn geheiratet zu haben, beschuldigte sie, kein »Talent dafür zu haben, sich zu entspannen und zu genießen, was sie hatte«. Doch als die Ehe in die Brüche ging, gab Gretl Eric die Schuld. Ihre Feindseligkeit ihm gegenüber war so groß und hartnäckig – obwohl sie letzten Endes nachließ –, dass ich Bedenken hatte, Eric alles sehen zu lassen, was Gretl geschrieben hatte, ihm einen vollständigen, unzensurierten Einblick in ihre Gedanken zu gewähren, bevor ich Material für dieses Buch auswählte.
    Ich hielt nie inne, um zu überlegen, ob es mir überhaupt zustand, diese Tagebücher zu lesen. Ich betrachtete sie als Teil meines Erbes, sie gehörten mir, ich konnte damit tun, was ich wollte, und rang um Rechtfertigungen, wenn mich jemand kritisierte, warum ich sie verwendete. Ich konnte nur antworten, dass Gretl mich nicht gebeten hatte, sie zu vernichten, und Anne hatte entschieden, sie aufzuheben. Zudem hatte sie jene weggeworfen, die Gretl am peinlichsten waren, und alle Personen, über die sie geschrieben hatte, waren tot. Ich dachte auch, Gretl wäre vielleicht erfreut gewesen, dass einer ihrer Enkel, ein Jahrhundert, nachdem sie ihr erstes Tagebuch begonnen hatte, so interessiert an ihr war, dass er alles lesen wollte, was sie geschrieben hatte. Trotzdem war mir klar, dass Gretl nicht gewollt hätte, was ich mit ihren Tagebüchern machte. Schon als Elfjährige hatte sie geschrieben: »Ich möchte alle meine Gedanken so aufschreiben, wenn ich nur wüßte, dass niemand dieses Buch liest.«
    Gretls Materialismus war äußerst ausgeprägt. So wie sie ihre Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke auflistete, hielt sie auch viele der letzten Erwerbungen und neuesten Konsumgewohnheiten der Familie fest. Als die Familie 1909 die Villa in Altaussee bezog, begann sie ihren ersten Eintrag mit einem typischen Ausruf: »Unsere Villa!« Nach einem Abend in der Oper 1911 notierte sie ihre erste Taxifahrt. Einige Monate später, nachdem die Familie das erste Auto gekauft hatte, kam »Unsere 1. Automobiltour«; sie fuhren in einer Stunde und zehn Minuten in den 35 Kilometer von Altaussee entfernten Kurort Bad Ischl, um in der berühmten Café-Konditorei Zauner Tee zu trinken und Eiskrapferl zu essen. »Wir haben seit dem 10.VII. ein Automobil und zwar einen Gräf & Stift Wagen«, schrieb Gretl, der offensichtlich klar war, dass dies kein gewöhnliches Auto war. »Er ist pickfein!!!«
    Bei einem typischen Weihnachtsfest bekam sie Kleidungsstücke, Schmuck, Bücher und vieles mehr geschenkt – zum Beispiel ein Ballkleid, Ballschuhe, Ballhandschuhe, eine silberne Armbanduhr, eine Goldbrosche, Parfüm, eine Tischlampe, Nachthemden, eine Schachtel mit Briefmarken, ein Cape, eine kleine bestickte Handtasche, eine lederne Schmuckschatulle, einen Band Goethe-Gedichte, einen mit Schiller-Versen und eine »Hamlet«-Ausgabe. 1909 bekam sie von Moriz und Hermine ein neues Zimmer in der Schleifmühlgasse, und das wurde auch umgehend neu eingerichtet. Wie groß die Wohnung war, lässt sich daraus ablesen, dass zu Gretls neuen Möbeln nicht nur ein Bett, ein Nachttischchen, eine Garderobe, zwei Schränke und ein Schreibtisch gehörten, sondern auch ein Sofa, ein Tisch und vier Stühle.
    Wie sah Gretl diese Geschenke? War sie sich ihrer Privilegiertheit bewusst, wenn ihre Eltern die Sommerferien in Altaussee durch ein- oder zweitägige Ausflüge im Salzkammergut und nach Süddeutschland und eine einwöchige Tour in die Dolomiten unterbrachen? War ihr das Glück bewusst, dem langen Wiener Winter entrinnen zu können, wenn die Familie für vierzehn Tage nach Abbazia ans Meer fuhr, um die Zeit zwischen Hotels mit den passenden Namen Palace und Savoy aufzuteilen? Was dachte sie darüber, prächtig herausgeputzt in Theater und Oper gehen zu können und viele der größten Musiker zu hören, Bruno Walter etwa, Pablo Casals und Artur Rubinstein?
    Gretls übliche Reaktion war ein kurzer Ausruf der Begeisterung. So hieß es etwa, sie sei »schrecklich froh und glücklich«. Nur einmal gab sie zu, zu sehr verwöhnt zu werden, und auch das nur auf konventionelle Weise; das verrät Alma Schindlers Tagebuch. Alma zählte

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