Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Hermine Ohrfeigen und schlugen sie zur Strafe, und die sechzehnjährige Gretl akzeptierte das auch, weil sie Lene »angeblich grundlos« angegriffen hatte. Ende 1913 stritt sie wieder einmal mit Käthe und Lene, und Hermine gab der 17-jährigen den Rat, sich einen Ehemann zu suchen, der ihr mit Gewalt Disziplin beibringen würde, tat dies selber allerdings nicht. Stattdessen verbot sie ihr, mit der Familie in die Kirche zu gehen, änderte aber dann ihre Meinung, da dem Priester Gretls Abwesenheit aufgefallen wäre. Die schlimmste Strafe, die Hermine an diesem Abend einfiel: Sie verweigerte Gretl den üblichen Gutenachtkuss.
Trotzdem wurde Gretl langsam erwachsen. Sie war entzückt, als Moriz und Hermine ihr ab Mitte 1912 erlaubten, bei den Abendeinladungen dabei zu sein. Sechs Monate später war sie ganz aufgeregt, als sie ihr erstes »erwachsenes Silvester« feiern durfte; das bedeutete eine Aufführung der »Fledermaus« von Johann Strauß in der Hofoper und ein Diner mit Hors d’œuvres, Suppe, Entenleberfilets, Wildbraten mit Cumberlandsauce, Eis, um den Gaumen zu reinigen, Obst und Käse, und dann um halb drei zu Bett. Ein Jahr später ging das ähnlich; sie sah Puccinis »La Bohème«, bevor sie mit Onkel Adolf und Tante Ida zu Abend speiste. Doch sie sehnte sich nach mehr und fieberte dem Tag entgegen, an dem sie achtzehn sein würde und viel öfter »in Gesellschaft« gehen konnte.
Ihre Position in der Familie war die der ältesten von drei Töchtern, fast drei Jahre älter als ihre Zwillingsschwestern und die einzig Hübsche unter den dreien. Während sie mit langem, welligem Haar und einer ansehnlichen Figur gesegnet war, sahen die Zwillinge weit weniger gut aus, und Käthe hatte noch dazu eine schlimme Hüfte, die auch die besten Chirurgen Wiens nicht heilen konnten. Gretls Aussehen war nicht nur ihr äußerst wichtig, sondern auch Moriz und Hermine, die ihr Bestes taten, es durch häufige Geschenke märchenhafter Kleider und Schmucks hervorzuheben. Ihre Garderobe wurde umfang- und abwechslungsreicher; einer ihrer Spitznamen lautete »die fesche Gretl«.
Ihre Verliebtheiten fanden alle auf Distanz statt. Wie viele andere Schülerinnen in rein weiblichen Schulen Anfang der 1900er Jahre schwärmte sie für eine ihrer Lehrerinnen. Sie begann Frau Kappelmann in ihrem ersten Jahr in der Mittelschule zu verehren und träumte bald jede Nacht von ihr. Sie himmelte auch den Sänger Richard Mayr an, einen der Stars der Hofoper, ihn verehrte sie sogar noch mehr als den Dirigenten Bruno Walter. Beinahe immer, nachdem sie ihn singen gehört hatte, versah sie Mayrs Name mit zwei, sogar drei Ausrufezeichen. In ihrer Sammlung von Autogrammfotos nahm er eine Vorzugsstellung ein. Für sie war er »der König«, ihr »Gott des Gesanges«, ihr »süßes Mayrlein«.
Ihre Ziele waren von den Bildungsmöglichkeiten für Mädchen in Wien bestimmt. Als sie 1906 in die Mittelschule eintrat, boten nur die Gymnasien für Jungen den achtjährigen Lehrplan, der von Latein und Griechisch dominiert war und den Zutritt zur Universität eröffnete. Der Frauen-Erwerb-Verein, der ihre Mittelschule betrieb, war Ende des 19. Jahrhunderts in Sachen Frauenerziehung an vorderster Front gestanden. Das sechsjährige Schulprogramm war von modernen Sprachen, Literatur und Musik geprägt, die Schülerinnen konnten danach an der Universität Vorlesungen hören, aber keinen akademischen Grad erwerben. Die Absicht war, die Chance der Schülerinnen auf eine vorteilhafte Heirat zu erhöhen.
Gretl wollte die Privatsekretärin ihres Vaters werden, eine Rolle, die manche Töchter von Wiener Familien des gehobenen Bürgertums ausfüllten. Eine Gouvernante hatte ihr Stenografie beigebracht, und so konnte sie einiges, wusste aber, dass noch mehr vonnöten war. Das könne sie lernen, dachte Gretl, wenn sie tagsüber bei Moriz arbeitete und abends eine Handelsschule besuchte. Doch um das Moriz vorzuschlagen, musste sie all ihren Mut zusammennehmen; er würde, so dachte sie, wahrscheinlich der Ansicht sein, eine solche Arbeit sei unter ihrer Würde, und war tief verletzt, als er ihren Vorschlag lachend abtat.
Sie erwartete, eher früher als später zu heiraten. Als ihre Eltern ihr den Wunsch abschlugen, 1912 nach Mähren zu Theobald Pollaks Begräbnis mitzukommen, da sie fürchteten, sie könne sich zu sehr aufregen, erklärte die fünfzehnjährige Gretl, sie würde Pollaks Grab in ihren Flitterwochen aufsuchen – das hielt sie für die erste Gelegenheit,
Weitere Kostenlose Bücher