Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
Vom Netzwerk:
Tönen« gesungen hatte, bezeichnete Gretl ihn als »eklig«. Sie war erfreut, als er aufhörte; Käthe und sie begingen den Jahresbeginn auf erfreulichere Weise und tanzten einen Tango.

Liebe
    DER SOMMER 1914 begann für Gretl wie jeder andere. Mitte Juni fuhr sie mit der Familie aus Wien in die Ferien nach Altaussee. In der Villa Gallia empfingen sie Freunde, sie lasen, gingen spazieren, spielten Tennis und unternahmen Ausflüge im Familienauto. Ich stelle mir vor, wie ihr Chauffeur sie in ihrem Gräf & Stift herumkutschierte, während am 28. Juni Erzherzog Franz Ferdinand in seinem Gräf & Stift durch Sarajevo fuhr, zuerst nur knapp einem Anschlag durch eine Bombe entging, die in das Auto hinter ihm fiel, und dann, als er die bei diesem Anschlag Verletzten besuchen wollte, erschossen wurde.
    Das Attentat hatte zunächst keine Auswirkungen auf die Familie. Hermine und die Kinder blieben wie sonst in Altaussee, Moriz teilte seine Zeit zwischen Land und Stadt auf. Doch nachdem die österreichische Regierung den Krieg gegen Serbien erklärt und Ende Juli die Armee mobilisiert hatte, auch Erni musste einrücken, beendete die Familie wie Tausende andere die Ferien und eilte in die Stadt zurück, wo Gretl seit ihren Kleinkindertagen keinen einzigen Sommer verbracht hatte. Während sie überlegte, was sie tun und wie sie der Hitze entkommen könnte, wurde sie von einer der Freundinnen ihrer Tante Ida, Frau Stern, in ihre Villa in Neuwaldegg am Rand des Wienerwaldes eingeladen. Bald war Gretl wieder dort, diesmal auf Einladung von Frau Sterns Sohn Norbert, um Tennis zu spielen. Mitte Oktober revanchierte sich Hermine und lud Norbert und seine Mutter zum Nachmittagstee in die Wohllebengasse ein.
    Am nächsten Tag nahm Gretl zum ersten Mal seit vier Monaten wieder ihr Tagebuch zur Hand. »Ein Skandal!«, bemerkte sie. »Nichts von den 5 Wochen Aussee, nichts vom Geburtstag, von unserer plötzlichen Abreise von Aussee & unserer Ankunft in Wien gleich nach der Mobilisierung – nichts davon dass wir den ganzen August in Wien blieben & dass nur Papa nach Aussee fuhr das Haus mit Resis & Ellas Hilfe in Ordnung zu bringen & dass Erni am Donnerstag, den 17. September marod zurückkam mit einer Blinddarmentzündung.« Nichts darüber, hätte sie hinzufügen können, von woher Erni zurückgekehrt war; wie er seit Juli am raschen Vorstoß Österreichs Richtung Osten nach Russisch-Polen und dann am noch schnelleren Rückzug nach Westen teilgenommen hatte, bei dem Österreich erschreckende Verluste erlitten hatte und den Großteil seiner Kornkammer Galizien aufgeben musste.
    Während Gretl schrieb, waren Moriz, Hermine und Erni auf dem Weg ins Sanatorium Loew, wo Erni der Blinddarm herausgeschnitten werden sollte. »Ich sitze jetzt allein zu Hause«, berichtete Gretl – die Dienstboten zählten nicht –, »& habe so Angst um Erni!« Doch es war nicht Erni, sondern Norbert Stern, ein Diplomingenieur, der sich als Architekt etablieren wollte, der Gretl bewogen hatte, ihr Tagebuch wiederaufzunehmen. »Er ist riesig nett, sicherlich der netteste Mensch (männlich) den ich bisher kennen lernte«, begann sie. »Schon 28¾ jährig & gar nicht eingebildet!«, fuhr sie fort und deutete damit an, dass die 18-jährige Gretl es gewöhnt war, von Männern dieses Alters gönnerhaft behandelt zu werden, und dass sie das nicht leiden konnte.
    Während sie ihre immer häufigeren Zusammenkünfte mit Norbert stets ausführlicher schilderte, schuf Gretl eine beinahe tägliche Chronik ihrer Beziehung, den bemerkenswerten Bericht einer aufblühenden Liebe und Werbung im Wien vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie enthüllte auch die Hoffnungen, Ängste und Wertvorstellungen der Gallias, die eben erst in die Straße des Wohllebens eingezogen waren, obwohl der Kriegsbeginn bedeutete, dass es nicht mehr so weitergehen konnte wie vorgesehen. Gretl, die ihr Verhalten, ihre Unterhaltungen und Konflikte aufzeichnete, hinterließ auf diese Weise eine rare Beschreibung, wie eine der wichtigsten Mäzenatenfamilien der Wiener Moderne in ihren neuen Hoffmann-Räumen lebte.
    In diesem November sah Gretl Norbert zweimal. Begonnen hatte es damit, dass ihre Tante Ida sie in eine Vorlesung über Ägypten mitnahm, wo Gretl und Norbert nebeneinander sitzen konnten. Dann fuhren Moriz, Hermine, Gretl, Käthe und Lene mit Norbert und Frau Stern in den Wienerwald, eine der beliebtesten Ausflugsgegenden der Stadt. »Ich habe mich wohl noch nie auf einem Ausflug so gut

Weitere Kostenlose Bücher