Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
in Pötzleinsdorf an, die Norbert entworfen hatte; Gretl bewunderte ihn dafür: »Ich lernte heute Norbert nicht nur als selten lieben guten Menschen, sondern als geschickten Architekten kennen.«
Nur einmal versuchte Hermine Gretl zurückzuhalten, als Norbert und sie Adolf und Ida nach Baden begleiten sollten. Da eine von Hermines Bediensteten auf Urlaub war, bat sie Gretl, zuhause zu bleiben und ihr beim Abstauben der straßenseitigen Räume zu helfen. Das Ergebnis war laut Gretl ein »harter Kampf«, dem sie schließlich entkam, um nach Baden zu fahren. Sie wusste zwar, Hermine würde jammern, sie sei gezwungen gewesen, bis Mitternacht zu putzen, und Moriz würde sie tadeln, sie besuche in dem einen Jahr zu viele Bälle und mache im nächsten zu viele Ausflüge, trotzdem triumphierte Gretl. Sie schrieb: »Ein paar Tage wird man mich noch ununterbrochen anstänkern, was ich tun werde, wird schlecht sein – aber die Erinnerung an einen schönen Sonntag kann mir niemand nehmen.«
Solche Ereignisse befeuerten Gretls Exaltation. Sie war außer sich vor Erstaunen, dass ein so kluger, gebildeter, intelligenter Mann sich gerne mit jemand so Jungem und Dummem unterhielt. Norberts Einfachheit und Ehrlichkeit waren ihr viel lieber als die Schmeicheleien der »Salonmenschen«, die sich in der feinen Gesellschaft zu bewegen wussten. Sie glaubte ihm, wenn er ihr sagte, sie sei sein »lieber Kerl«, obwohl ihr Vater ihr dauernd predigte, Männer würden sie wegen ihres Geldes heiraten wollen. Ihr Ziel war es, Norbert so viel wie möglich für sich selbst zu haben, damit sie sich ungestört unterhalten konnten.
Als Frau Stern und er im März unter den Gästen bei einem Abendessen in der Wohllebengasse waren, war Gretl entzückt, mit Norbert allein sein zu können. Sie bildete sich gerne ein, sie sei geschickt darin, solche Gelegenheiten zu inszenieren, ohne dass jemand etwas bemerkte, doch diesmal hatte Ida die Hand im Spiel. Norbert und Gretl hielten sich im Rauchsalon auf, als das Gespräch auf die anonymen Telefonanrufe kam, die sie Anfang des Jahres erhalten hatte; Norbert fragte sie, ob es ihr etwas ausmachen würde, sollten sich die Gerüchte als wahr herausstellen. Als Gretl errötend verneinte, meinte Norbert, sie müsse bemerkt haben, dass er sie liebe, und fragte, ob sie ihn auch ein wenig gernhabe und es mit ihm versuchen wolle. Sie sagte ja, und so waren sie nun heimlich verlobt.
Norberts einzige Sorge galt den unheildrohenden Zeiten – Krieg und Liebe würden nicht zusammenpassen – und dass Gretl von ihrer opulenten Umgebung in der Wohllebengasse verwöhnt worden sei und Schwierigkeiten haben werde, mit einem viel bescheideneren Leben in der Ehe zurechtzukommen. Als er sie am nächsten Morgen anrief, sprach er sie mit »Du« statt mit »Sie« an, ein Zeichen ihrer neuen Vertrautheit. Er berichtete auch, er habe mit seiner Mutter gesprochen, und die gebe ihren Segen. Sie vereinbarten, zwei Tage später, am Sonntag, an dem sie einen Ausflug unternehmen wollten, ausführlicher zu sprechen. Dann würde Norbert bei Moriz und Hermine um Gretls Hand anhalten.
Gretl erwartete, ihre Eltern würden mehr Widerstand leisten als Frau Stern. Sie würden meinen, sie sei zu jung, zu dumm und unpraktisch, und sagen, Norbert habe keine sichere Arbeit und könne sie nicht so versorgen, wie sie es gewohnt sei. Dann wollte sie antworten, sie liebe Norbert so sehr, dass sie bereit sei, ihre Ausgaben einzuschränken. Sie würde ihnen sagen, er sei ein solcher »Gentleman« – eines der vielen englischen Wörter, die sie nach wie vor in ihrem Tagebuch gebrauchte, obwohl es im Krieg verpönt war, in der Öffentlichkeit Englisch zu sprechen –, dass er sich nie nach dem Vermögen der Gallias erkundigt habe; das ließ sie annehmen, es sei ihm egal.
Bis Sonntag aber dauerte es Gretl zu lange. Nachdem sie am Freitagvormittag mit Norbert gesprochen hatte, konnte sie nicht mehr an sich halten. Noch vor dem Abend »beichtete« sie alles Moriz und Hermine, die anscheinend keinen Einwand erhoben. Doch am Sonntag war Gretl der Verzweiflung nahe; das Wetter war so schlecht, dass an einen Ausflug nicht zu denken war, und Norbert meldete sich nicht. Als er am Montagabend anrief, sagte sie ihm, er solle so bald wie möglich in die Wohllebengasse kommen. Bei seinem nächsten Anruf am folgenden Morgen fragte er, ob er am Nachmittag kommen könne, und sie meinte, je eher, desto besser.
Gretl empfing Norbert im Boudoir ihrer Mutter, dominiert vom
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