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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Der größte Teil jedes Abends wurde mit Tanzen verbracht. Gretl notierte immer, wie oft sie aufgefordert wurde – meist sehr oft, mehr als alle anderen jungen Frauen. Sie führte an, wer sie aufgefordert hatte und ob darunter die besten Tänzer waren, ebenso, welche jungen Männer ihr die Buketts überreichten und wie viele sie erhalten hatte, das reichte von acht bis 21 (die allerdings waren ungewöhnlich mickrig).
    Für derartige Anlässe war die Hoffmann-Wohnung eingerichtet worden. Wären die Bauarbeiten nach Plan verlaufen, dann wäre sie im September 1913 fertig gewesen, und die Familie hätte sie während der einige Monate später beginnenden Ballsaison benutzen können. Doch das feuchte Wetter verzögerte den Baufortschritt, und die Familie konnte erst gegen Jahresende einziehen; sogar dann gingen die Arbeiten noch weiter, da die Wiener Werkstätte die letzten Hoffmannschen Beleuchtungskörper erst im März 1914 fertig hatte. Moriz und Hermine wollten aber nicht so lange warten, bis sie eine Gesellschaft gaben. Im Dezember 1913 musizierte ein Pianist namens Blum bei einer Soiree am Stephanstag für 38 Leute, was Gretl klein, aber ansprechend fand; sie fürchtete allerdings, die Gallias würden von Leuten von höherem Stand, wenn auch weniger Vermögen, geschnitten werden. Besonders verstörte es sie, dass einer der Eingeladenen ihnen nicht mitgeteilt hatte, dass er nicht kommen würde, ein anderer die Einladung abgelehnt hatte, aber dann doch gekommen war, und ein Dritter, der drei Stunden zu spät erschien, behauptete, Erni habe ihm die falsche Zeit genannt. Gretl kam zwar bei Hausbällen anderer Familien oft ein, zwei Stunden zu spät, drei Stunden aber waren inakzeptabel, und die Erklärung machte sie wütend. »Wenn der Trottel keine bessere Ausrede weiß, soll er lieber zu Hause bleiben«, schäumte sie. »Eingeladen wird der bei uns nie mehr.«
    Erni verursachte der Familie weit größere Sorgen, denn er hatte mit den Privilegien und Erwartungen zu kämpfen, die aus seiner Stellung als ältester und einziger Sohn von Moriz und Hermine herrührten. Ihre Entscheidung, ihn ins Theresianum zu schicken, das angesehenste Wiener Gymnasium, ursprünglich nur für Jungen aus Adelskreisen gedacht, trübte seine Kindheit. In anderen Wiener Gymnasien machten jüdische Schüler durchschnittlich über dreißig Prozent aus, im Theresianum aber weniger als ein Prozent. Nur zwei Jungen dort waren Juden, und die waren beide Adelige, die Söhne von Baron Rothschild. Trotz seiner Konversion lange vor dem Eintritt wurde Erni als Jude behandelt.

Gretl zur Zeit ihrer zwei Ballsaisonen.
    Seine Probleme mit Latein und Griechisch machten die Schulzeit noch traumatischer; falls er nämlich die Matura nicht bestand, musste er zwei Jahre als gewöhnlicher Soldat Militärdienst ableisten statt ein Jahr als Offiziersanwärter, und das hätte seinen gesellschaftlichen Status auf Dauer lädiert. Als Erni im Juni mit der Hilfe eines Nachhilfelehrers maturierte, der im letzten Schuljahr bei der Familie gewohnt hatte, belohnten Moriz und Hermine ihn mit seinem ersten Auto. Doch da er nur mit Stimmenmehrheit bestanden hatte – das bedeutete, dass einige seiner Lehrer ihn nicht für reif hielten –, musste er auf Anweisung von Moriz und Hermine das Auto den Sommer über in Wien stehen lassen. Wie auch Freud in seiner »Traumdeutung« es von sich selbst schildert, verlor Erni nie seine Angst vor dieser Prüfung und hatte stets wiederkehrende Maturaträume.
    Sein Militärdienst, der im Oktober 1913 in einem in Wien stationierten Artillerieregiment begann, erwies sich als mindestens ebenso problematisch, als er, kurz bevor Moriz und Hermine im Jänner 1914 eine weitere Soiree geben sollten, vierzehn Tage lang Ausgangsverbot hatte. Die Familie genierte sich wegen Ernis Abwesenheit an jenem Samstag, mehr noch aber machte ihnen zu schaffen, dass ihr Hausball eine Woche später stattfinden sollte und jeder, der teilnahm, die Demütigung der Familie mitbekommen würde. Moriz und Hermine hatten zwar die Einladungen ausgeschickt, Speisen, Musik, Unterhaltung und Raumschmuck organisiert, trotzdem erwogen sie, den Ball abzusagen. »Was geschehen wird, ist noch ganz unbestimmt!«, rief Gretl aus. »Ich bin verzweifelt!!!!!!!«
    Ihr Eintrag drei Tage später vermittelt das Entsetzen der Familie und zugleich den Stolz auf ihr Ansehen und ihre Identität als Gallias, die Moriz und Hermine zu entwickeln begonnen hatten, seitdem sie in den 1890ern

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