Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
allmählich zu Wohlstand gelangt waren. »B... Gott!! Das Schreckliche ist geschehen«, schrieb Gretl, als wäre Erni eben erst eingesperrt worden, und sie hätte nicht bereits darüber geschrieben. »Unser Erni, ein Gallia, zur Batterie versetzt. Er kann nie Offizier werden & muss dienen als Gemeiner Soldat! Er, ein Gallia! Es ist unglaublich! Und warum? Wegen Faulheit hat er die 14 Tage Kasernarrest & weil er einem Untergebenen 1 K trotz wiederholter (4facher Warnung) schuldig geblieben ist, muss er jetzt als Gemeiner dienen. Mama ist ohnmächtig geworden auf die Nachricht hin; sie & Papa haben 3 Nächte nicht geschlafen. Es ist zu entsetzlich, zu unglaublich!«
Gretl war es so sehr daran gelegen, dass der Ball stattfand, dass sie erwog, insgeheim an Ernis kommandierenden Offizier, Oberst Czerny, zu schreiben und um Gnade zu bitten. Moriz, dessen Reichtum und Stellung als Regierungsrat ihm trotz seiner jüdischen Herkunft beträchtlichen Einfluss in Wien verliehen, konnte zwar Ernis umgehende Freilassung nicht erreichen, doch immerhin sicherstellen, dass sein Vergehen nicht in seinen Dokumenten aufschien; Erni blieb Offiziersanwärter. Drei Wochen später bedankten sich Moriz und Hermine bei Czerny, indem sie ihn zu einer »Parsifal«-Aufführung in der Hofoper einluden und dann bis zum frühen Morgen in einem der besten Kaffeehäuser Wiens bewirteten. Inzwischen ging der Hausball ohne den Delinquenten vor sich.
Unter den 71 Gästen – 25 mehr als im Jahr zuvor – waren eine Baronin, acht »Vons«, ein Professor und ein Doktor. Obwohl die Hoffmann-Zimmer – außer dem Boudoir – alle über fünfzig Quadratmeter groß waren, bildete es eine Herausforderung, sämtliche Gäste in großem Stil zu bewirten. Gretls Tagebuch lässt vermuten, dass alles glattging. Der Tisch im Hoffmann-Speisezimmer bot normalerweise Platz für acht Personen, doch es gab achtzehn dazupassende Stühle, überdies konnte man den Tisch ausziehen, sodass alle bequem Platz hatten. Bei diesem Anlass plazierte man 27 Personen daran, 49 im kleineren Rauchsalon. Falls die Gäste beim Eintreffen noch nicht wussten, warum Erni abwesend war, dann sollten sie es bald erfahren, aber Gretl war zu selig, als dass es ihr noch etwas ausgemacht hätte.
Unterhalten wurden die Gäste an diesem Abend vom neunzehnjährigen Oskar Karlweis. Sein Vater hatte viele der Stücke geschrieben, die Hermine und Moriz Anfang des Jahrhunderts gesehen hatten. Karlweis war bei mehreren Bällen, die Gretl in ihrer ersten Saison besucht hatte, Gast gewesen, 1914 aber hatte er sich bereits einen Ruf als Schauspieler erworben und trat bei Hausbällen auf; bald darauf wurde er ein erfolgreicher Bühnen- und Filmstar. Zu Gretls Entzücken trat Karlweis an diesem Abend gemeinsam mit dem zwanzigjährigen Ernst Marischka auf, der bereits das Drehbuch für einen erfolgreichen Film geschrieben hatte und noch Dutzende weitere verfassen sollte; berühmt wurde er in den 1950er Jahren durch seine »Sissi«-Trilogie über Kaiserin Elisabeth von Österreich.
Unterbrochen von Gesprächen, die Gretl »wahnsinnig« gut fand, tanzte sie bis vier Uhr morgens. Wie gewöhnlich hatten ihre Eltern Blum engagiert, der am Steinway-Flügel spielte. Die Bedienten werden wohl das Klavier in eine Ecke des Salons gerückt haben, um mehr Platz zum Tanzen zu schaffen, den Hoffmann-Teppich eingerollt und die Hoffmann-Möbel an die Wände geschoben, wodurch die drei massiven vergoldeten, glasperlenverzierten Hoffmann-Kronleuchter, die die Wiener Werkstätte erst am Tag zuvor aufgehängt hatte, besonders zur Geltung kamen. Wegen der vielen Gäste wurde vielleicht im angrenzenden Entree ebenfalls getanzt.
Gretl erhielt 22 Buketts, mehr als je zuvor, tanzte aber beinahe den ganzen Abend mit nur drei Partnern. Einer war Ernst Marischka, der nicht nur auftrat, sondern auch mit den Gästen speiste und tanzte. Ein zweiter war Oskar Karlweis, für den dasselbe galt. Der dritte war Oberleutnant Balberitz, Offizier bei den Sechserdragonern, einem der angesehensten österreichischen Kavallerieregimenter. Obwohl Marischka ein schlechter Tänzer war und Karlweis nur wenig besser, tanzte Gretl gern mit ihnen, denn sie besaßen Prestige in Sachen Kultur. Doch das Tanzbein schwang sie am liebsten mit Balberitz, dem besten anwesenden Tänzer. Sie war begeistert, als er zuerst eintraf und sie den Großteil des Abends hindurch aufs Parkett führte.
In dieser Saison gab es einen neuen Tanz, den Tango; er stammte aus
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