Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
Argentinien, wo man ihn als »pornographisches Spektakel« verdammt hatte, als Tanz, »der offenkundig in verrufene Clubs und übel beleumundete Spelunken gehört und niemals in gediegenen Salons oder unter vornehmen Leuten getanzt wird«. In Europa wurde er in abgewandelter, weniger anstößiger Form zum Tanz der Oberschicht. Anfang 1913 hatten die jungen Herren mit Gretl am liebsten Quadrille getanzt, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wien populär geworden war; zu Ende des Jahres war es der Tango. Wie üblich glänzte sie auch hier: Bei einem Ball gewann sie den zweiten Preis für den alten Walzer und den neuen Modetanz.
Während die Tango-Leidenschaft auch 1914 andauerte, bemerkte ein Argentinier, für die Europäer sei der Tango »bloß ein leicht anrüchiger exotischer Tanz, sie tanzen ihn wegen der sinnlich-perversen Elemente und weil er irgendwie barbarisch ist«. Wegen seiner Beliebtheit war der Tango ein Höhepunkt beim Ball der Gallias. Die drei anwesenden Offiziere, darunter Leutnant Balberitz, mussten zwar sitzen bleiben, da Franz Joseph seinen Offizieren untersagt hatte, in Uniform Tango zu tanzen; Gretl aber wiegte sich im Tango im Hoffmann-Salon, wo die Klimt-Landschaft hing.
Andere Familien gaben noch prächtigere Gastereien als die Gallias, weil sie reicher waren oder eher bereit, Geld auszugeben. Wie die öffentlichen Bälle der Stadt im Opernball in der Hofoper kulminierten, so wurden die privaten Bälle, die Gretl besuchte, immer extravaganter. Einen Ball, den die Familie ihrer besten Freundin, Lili Pollak, Mitte Februar 1914 veranstaltete, hielt sie für unübertrefflich. Gretl berichtete, dass sich – als sie wie üblich zu spät erschien, um halb zehn – alle miteinander unterhielten und dass sie besonders gute Gespräche hatte. Es folgte ein Abendessen, bei dem sich die Gäste selbst ihre Plätze aussuchen konnten, zu Gretls Entzücken, da sie noch interessantere Gesellschaft fand. Dann endlich begann der Tanz, Blum musizierte, stundenlang ging es so dahin, mit nur einer Unterbrechung, als Rokokopuppen verlost wurden. Gretl blieb auf dem Tanzparkett, bis sie völlig erschöpft war. Es war »wirklich wunderschön«, bemerkte sie, nachdem sie um vier nach Hause gekommen war, »der schönste Ball in dieser Saison«. Der letzte Ball schien ihr noch besser, »der Ball der Bälle«, »einfach fabelhaft schön, ein Traum«. Als sie wieder um halb zehn eintraf, war sie der 92. Gast, der seinen Mantel abgab, und als sie um halb drei Uhr ging, da Onkel Adolf und Tante Ida sie abholen gekommen waren, ging der Ball noch munter weiter. Dazwischen musizierte Blum mit einem Quartett, eine Schauspielerin vom Hofburgtheater und ein Schauspieler vom Volkstheater traten auf. Das Abendessen, serviert auf rosenbestreuten Tischen, war »wie für Erwachsene«, bemerkte die 17-jährige Gretl entzückt, und sie zählte auch gleich alle Köstlichkeiten auf. Kaviar wurde gefolgt von Bouillon, Perlhuhnsalat, Kastanien- und Ananaskompott, Brötchen mit Gänseleber, Eis in Rosen- und Früchteform, dazu Sherry, Rot- und Weißwein sowie Champagner. Besonders befriedigt war sie, weil die Gastgeberin, Frau Kern, gemeint hatte, sie sei die beste, eleganteste Tänzerin gewesen.
Hätten die Männer bei diesen Bällen ihr ähnliche Komplimente gemacht, dann hätte Gretl sie notiert. Doch ebenso wie sie kein besonderes Interesse an irgendeinem von ihnen erkennen ließ, egal wie lange sie getanzt und sich unterhalten hatten, scheinen auch die Männer nicht besonders an ihr interessiert gewesen zu sein. Die einzige Ausnahme gab es bei einem Diner im März 1914, nach dem Ende der Saison, als, wie Gretl schrieb, sie vom einzigen anwesenden »Von« »in sehr lustiger Weise« hofiert wurde. Besonders gefiel ihr das, weil eine der anderen jungen Frauen »eifersüchtig wie ein Türke« gewesen war.
Unterdessen ging ihre Cousine Friedl, die jüngste Tochter von Wilhelm Gallia, jene Art von Partie ein, die Moriz und Hermine sich für Gretl vorstellten. Friedls Ehemann Richard hatte das Prestige, ein »Von« und ein Hofmannsthal zu sein, ein Cousin des großen österreichischen Lyrikers, Dramatikers und Librettisten Hugo von Hofmannsthal. Richard war ebenfalls zum Christentum übergetreten und Direktor einer dänischen Erdölraffinerie. Gretl war nicht beeindruckt, als sie ihn bei einer Silvesterparty in Adolfs und Idas Wohnung kennenlernte. Nachdem Hofmannsthal das große Wort geführt und »in den grässlichsten
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