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Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)

Titel: Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Bonyhady
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Klimt-Porträt Hermines und dem Andri-Porträt von Moriz und voller weiß-goldener Hoffmann-Möbel. Hätten Gretl und Norbert das stimmig gefunden, dann hätten sie nebeneinander auf dem Hoffmann-Sofa oder auf den dazupassenden Hoffmann-Sesseln sitzen können. Stattdessen saßen sie getrennt, in einer von Hoffmann geschaffenen Kaminecke, in der die eingebauten Sitze durch ein Tischchen und einen Pseudo-Kamin getrennt waren. Hier hatten Gretl und Norbert jene förmliche Unterredung, die sie für angemessen hielt, und bestätigten, dass sie heiraten wollten. Dann küssten sie einander zum ersten Mal. »Dann hat er mir die Verlobungsküsse gegeben«, schrieb Gretl. »Einen Moment war mir ganz schwarz vor den Augen vor Glück.«
    Moriz und Hermine waren im Rauchsalon mit den Zwillingen, denen klar wurde, was los war, als Norbert und Gretl heraustraten. Norberts Mutter, nun, wie Gretl bemerkte, auch ihre Mutter, nicht mehr Frau Stern, sondern Mama Luis, saß in ihrer Wohnung am Telefon und wartete auf die Nachricht. »Alle haben’s kommen gesehen«, bemerkte Gretl, »aber nicht gedacht, dass es so schnell geht.« Norbert und sie hatten einander in den fünf Monaten, seit er in die Wohllebengasse zu Besuch kam, fünfzehnmal gesehen.
    Doch nicht alle hatten es kommen sehen; das stellte sich heraus, als Gretl Adolf und Ida berichtete. Obwohl Ida Norberts Werbung um Gretl befördert hatte und eine alte Freundin Frau Sterns war, war sie schockiert. »Sag’s noch einmal!«, rief sie aus. »Mir scheint, du bist verrückt!!« Aber Gretl war zu glücklich, um sich zu grämen oder beleidigt zu sein. Über ihre Verlobung schrieb sie: »Es ist schnell gekommen & ich bin überglücklich. Heute hab ich das 1. Mal seit Mittwoch wieder geschlafen.« Als sie sich am nächsten Morgen das Gesicht wusch, kam eben ein großer Strauß weißer Flieder von Norbert mit der Botschaft: »Guten Morgen!«
    Norbert schmiedete sofort Pläne. Er schlug vor, sie sollten im August heiraten. Die Flitterwochen sollten sie in der Schweiz verbringen, die bei Kriegsbeginn ihren neutralen Status beibehalten hatte, und in Italien, das im August 1914 durch die Erklärung seiner Neutralität den Dreibund mit Deutschland und Österreich aufgekündigt hatte. Sie würden in St. Moritz, dem berühmtesten alpinen Kurort, starten, dann südwärts zum Comer See und nach Venedig fahren. Einstweilen tauschten sie Ringe und Fotografien aus. Gretls Foto zeigt sie mit ungewöhnlich rundem Gesicht und außerordentlich einfacher Kleidung. Sie wirkt lieb, erwartungs- und hoffnungsvoll, jünger, als sie ist. Sie scheint zu jung zum Heiraten.

Krieg
    DIE MEISTEN ÖSTERREICHER begrüßten den Krieg; die Ermordung Franz Ferdinands sollte gerächt werden. Juden und eben erst zum Christentum Übergetretene waren besonders enthusiastisch. Sie sahen den Krieg als eine Möglichkeit, den Antisemitismus, der seit Ende der 1890er und Anfang der 1900er Jahre immer virulenter geworden war, zurückzudrängen. Sie wollten zeigen, dass sie vorbildliche Staatsbürger waren und Kaiser Franz Joseph ihre Dankbarkeit dafür erwiesen, dass er jene Gesetze eingeführt hatte, die es ihnen erlaubten, nach Wien zu ziehen und es dort zu etwas zu bringen. Als die k.u.k. Regierung 1916 als Reaktion auf die Anschuldigung, die Juden würden sich vom Militärdienst drücken, ihre Zahl in den Streitkräften statistisch erfasste, erwies sich diese als überdurchschnittlich hoch.
    Wie Frauen in anderen Ländern beteiligte sich auch Gretl bald an den Kriegsanstrengungen, indem sie strickte, nicht nur, wenn sie allein zuhause war, sondern auch, wenn sie ausging. Ihr erster Stricknachmittag fand im November 1914 in der Wohnung einer befreundeten Familie statt, der nächste vierzehn Tage später, als Hermine und sie zum ersten Mal die Wohnung der Sterns im zweiten Bezirk besuchten. Danach erwähnte Gretl das Stricken nur noch einmal, wahrscheinlich weil solche Nachmittage zu alltäglich geworden waren, um sie extra zu bemerken, und nicht, weil es keine mehr gegeben hätte.
    Wie andere Staaten auch finanzierte Österreich seine Streitkräfte vorwiegend durch spezielle Kriegsanleihen, die ein Jahrzehnt später zurückgezahlt werden sollten. Die Nachfrage nach diesen Anleihen war so groß, dass die Regierung die Armee unterhalten konnte, ohne die Steuern nennenswert zu erhöhen. Im Großen und Ganzen zeichneten zwei Drittel der österreichischen Haushalte solche Papiere, ob nun aus Patriotismus, wegen der ungewöhnlich

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