Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
unterhalten«, berichtete Gretl. »Er ist wirklich ein selten lieber Mensch – & so aufrichtig!«
Die achtzehnjährige Gretl schenkte diese Fotografie Norbert Stern bei ihrer Verlobung im März 1915.
Dass er katholisch war, bildete eine seiner Attraktionen, obwohl Gretl ihren Glauben nicht besonders streng einhielt. Sie hatte zwar ihr zweites Tagebuch 1913 mit den Worten »Mit Gott!« begonnen, ebenso wie ihr erstes Rezeptbuch 1914, aber das war schlicht eine Sache der Konvention. 1914 berichtete sie nur einmal von einem Kirchgang, ebenso 1915, als Käthe und Lene verspätet mit sechzehn Jahren gefirmt wurden. Trotzdem war Gretl begeistert, als sie erfuhr, dass Norbert einige Jahre zuvor vom Judentum zum Christentum übergetreten war. Ihre gemeinsame Herkunft und Religion waren, wie sie bemerkte: »Ein Anknüpfungspunkt mehr!«
Ebenso beeindruckt war Gretl, als Ida sie drei Wochen später bei einem gemeinsamen Abendessen in ihrer Wohnung wieder zusammenbrachte. Sie schrieb: »Es war schön, wir unterhielten uns so gut, und er ist wirklich eine sehr nette Person.« Nachdem er heimgegangen war, rief er sie zum ersten Mal an und bat sie, ihn Norbert statt Herr Stern zu nennen. »Ob ich’s wohl tue?«, schrieb sie.
Fünf Tage später stand sie in der Küche und war mit Silvestervorbereitungen beschäftigt, als ein mit einem Schneeglöckchenstrauß geschmücktes Paket eintraf. »An mich adressiert?«, schrieb sie. »Komisch.« Dann erkannte sie Norberts Handschrift auf dem Umschlag, der eine Karte enthielt, auf der stand, Gretl, Käthe und Lene sollten sich das Kilogramm Pralinen im Paket teilen, Gretl aber die Blumen behalten. »Wie freue ich mich darüber«, schrieb sie. »Das 1. Mal dass ich von einem Herrn Blumen & Bonbons bekam!!!«
Moriz und Hermine pflegten den Neujahrsbeginn mit allem Pomp mit Adolf und Ida zu feiern, doch da die beiden in ihrer Villa in Baden waren, blieben Moriz und Hermine zuhause bei Gretl, Käthe und Lene. Nachdem sie um neun Uhr auf das neue Jahr angestoßen hatten, gaben sie sich dem alten Brauch des Bleigießens hin: Geschmolzenes Blei wurde in kaltes Wasser getropft und aus den sich ergebenden Formen die Zukunft gedeutet. Um elf war Gretl im Bett, müde von Wein und Punsch. Doch sie lag noch wach und dachte an Norbert, nicht nur wegen des Geschenks vom Vormittag, sondern auch, weil sie beim Bleigießen einen Stern gesehen hatte. »Zufall?«, fragte sie sich.
Vierzehn Tage später rief eine anonyme Frauenstimme an und fragte, ob sie Gretl zu ihrer Verlobung gratulieren dürfe, hing dann aber auf, bevor diese antworten konnte. Dann rief sie noch einmal an und meinte, man erzähle sich, Gretl und Norbert seien verlobt, obwohl er gar keine Familie erhalten könne. Diesmal erwiderte Gretl, es sei eine Dreistigkeit, solche grundlosen Geschichten herumzuerzählen, und hing dann selber auf. Sie konnte zwar nicht herausfinden, wer die Anruferin gewesen war, hatte aber eine der jungen Frauen in Verdacht, die sie manchmal in die Wohllebengasse einlud. Sie nahm an, es sei eine der Besucherinnen vom Stephanstag gewesen, nur diese hatten sie ja mit Norbert zusammen gesehen.
Mit achtzehn wäre Gretl zwar jung für eine Verlobung gewesen, aber nicht übermäßig jung. Ihre Tante Henny hatte mit neunzehn geheiratet, ihre Cousine Melanie mit zwanzig, ihre Cousine Friedl mit 21, Hermine mit 22. Norbert hatte mit 29 das richtige Alter zum Heiraten; Männer wurden erst mit 25 Jahren volljährig, wenn sie mit einiger Wahrscheinlichkeit Frau und Kinder ernähren konnten; Norbert allerdings hätte das mit seinem Jahresgehalt von 3000 Kronen (etwa 20.000 Euro) nicht tun können. Nach damaliger Ausdrucksweise war er »keine gute Partie«; die herkömmliche bürgerliche Betonung des Materiellen als Basis für eine Ehe war in Wien, obwohl die romantische Liebe an Bedeutung zunahm, immer noch stark vertreten.
Moriz und Hermine scheint das wenig ausgemacht zu haben, als sie gemeinsam mit Adolf, Ida und Frau Stern Norbert und Gretl auf etlichen Ausflügen als Anstandspersonen begleiteten. Das übliche Ziel war der Wienerwald, wohin sie mit der Straßenbahn oder dem Zug fuhren, nie mit dem Auto; da die österreichischen Streitkräfte bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn viel zu wenige Fahrzeuge hatten, hatte sich Moriz veranlasst gefühlt, seinen Gräf & Stift der Armee zur Verfügung zu stellen. Normalerweise wanderten sie, einmal fuhren sie Ski und einmal sahen sie sich eine Villa und ein Zweifamilienhaus
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