Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
hohen Zinsen oder weil der öffentliche Druck groß war. Moriz kaufte keine Anleihe der im Herbst 1914 ausgegebenen Serie, investierte dann aber stark in die zweite, dritte und vierte Ausgabe, und zwar 510.000 Kronen, der Gegenwert von etwa 3,6 Millionen Euro.
Noch mehr Geld brachte die Regierung durch einen Aufruf an die Frauen auf, ihren Schmuck zu spenden. Die augenfälligste und allgemeinste Reaktion kam von verheirateten Frauen, die ihre goldenen Eheringe gegen von der Regierung ausgegebene eiserne mit der Inschrift »Gold gab ich für Eisen 1914« tauschten; so bezeugten sie in aller Öffentlichkeit ihren Patriotismus, indem sie eines ihrer persönlichsten Besitztümer gegen Massenware tauschten. Hermine behielt ihren Ehering, einen einfachen Goldreif mit dem eingravierten Hochzeitsdatum, doch spendete sie ein weit wertvolleres Stück: die auffällige Goldbrosche mit den zwei Solitärdiamanten, die sie getragen hatte, als Klimt sie malte.
Moriz und Hermine demonstrierten ihren Patriotismus auch mittels der Wiener Werkstätte, die sofort alles ihr Mögliche tat, um die Kriegsanstrengungen zu unterstützen: Man entwarf Plakate für Kriegsanleihen, verkaufte diese Anleihen in den Zweigstellen und verzierte die Objekte mit Kriegssymbolen. Hermine kaufte eines der ersten Kriegs-Schmuckstücke der Werkstätte, eine viereckige Brosche mit den Flaggen Österreichs, Deutschlands und ihres türkischen Verbündeten, dazu Italiens, des Mitglieds im gerade noch existierenden Dreibund. Dazu erwarb sie etliche der wichtigsten Kriegsprodukte der Werkstätte, mit den Bildern von Soldaten und den Nationalfarben Österreichs und Deutschlands geschmückte Kriegsgläser.
Erni hätte eigentlich Ende 1914 nach dem Ende seiner Offiziersausbildung in einer von Moriz’ Firmen zu arbeiten beginnen und Reserveoffizier werden sollen, doch wegen des Krieges blieb er in der Armee. Nachdem er sich von seiner Blinddarmoperation im Sanatorium Loew erholt hatte, verließ er zu Neujahr Wien und stieß zu seiner Artillerieeinheit in Bärn in Nordmähren, wo Moriz und Hermine ihn regelmäßig besuchten, bevor er im Mai 1915 telegrafierte, er werde nun an die Front zurückkehren. Daraufhin fuhren sie in aller Eile nach Bärn, um ihn noch einmal zu sehen, bevor er wieder ins Kampfgeschehen musste.
Bei Norbert sah die Sache anders aus, da er unter schwerem Astigmatismus litt; deshalb war er nach der Schule und auch nach dem Attentat auf Franz Ferdinand vom Militärdienst befreit gewesen. Nachdem jedoch die k.u.k. Armee in den ersten Kriegsmonaten stark dezimiert worden war, suchte man verzweifelt nach mehr Soldaten. Nach einem Bericht seien nur körperlich Behinderte, Beamte, Priester, Bauern und Arbeiter in der Rüstungsindustrie der Einberufung entgangen. Norberts Sehkraft war aber so schlecht, dass er im November 1914 neuerlich für untauglich erklärt wurde. »Wonnevoll«, schrieb Gretl, »daß so mein liebster und nettester Bekannter in Wien bleibt!!«
Andere Wiener Tagebuchschreiber befassten sich in diesen Monaten beinahe ausschließlich mit dem Krieg und kommentierten in ihren Einträgen die Feldzüge der Österreicher. Gretl hingegen ignorierte den Krieg wochenlang, da ihre Gedanken so sehr um Norbert kreisten und ihr Tagebuch auch sonst immer eher persönlich als politisch war. Außerdem betraf der Krieg die reichsten Wiener Bürger einstweilen kaum; das war auch daran zu erkennen, wie oft Gretl in den teuersten Hotels der Stadt fein speiste, während bereits Lebensmittelknappheit herrschte und die Regierung die Bäcker anwies, Roggen-, Gersten-, Mais- und Kartoffelmehl statt Weizenmehl zu verwenden. Doch der österreichische Feldzug im Südosten war ein solches Desaster, dass ihn sogar Gretl erwähnte. Bekümmert hatte sie erfahren, dass die österreichischen Truppen (sie hatten angekündigt, Belgrad Franz Joseph zu Füßen legen zu wollen), nachdem sie beim dritten Anlauf schließlich die serbische Hauptstadt eingenommen hatten, so überfordert, schlecht ausgerüstet und zahlenmäßig unterlegen waren, dass die Serben umgehend Belgrad zurückeroberten und den Österreichern immense Verluste zufügten. Gretl war umso erschütterter, als diese Demütigung ausgerechnet am Kaisertag stattgefunden hatte, der an Franz Josephs Thronbesteigung 66 Jahre zuvor erinnerte. Sie schrieb: »Gott soll nur geben, dass der Krieg bald ein Ende hat.«
Auch der Kriegsverlauf im Nordosten beschäftigte sie. Als die k.u.k. Armee 1914 vor der weit
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