Wohllebengasse: Die Geschichte meiner Wiener Familie (German Edition)
sonderbaren und unpersönlichen Formulierung auf der Karte, sondern auch, weil das nicht Norbert, sondern eine Verkäuferin geschrieben hatte. Als er später kam und wie üblich einen großen Blumenstrauß für Gretl mitbrachte, ohne eine Ahnung von dem Ärger, den er verursacht hatte, blieb ihr die »grässliche Aufgabe«, ihm anstelle von Hermine, die bei ihren Eltern in Hietzing zu Besuch war, die Leviten zu lesen.
Die Situation war zwiespältig, da Gretl zum ersten Mal das Gefühl hatte, Hermine sei »mit Recht« aufgebracht gewesen. Norbert aber weigerte sich, zuzugeben, dass er sich falsch verhalten hatte, und beschuldigte Hermine und Gretl, lächerlich empfindlich zu sein; zudem stellte er ihre Vorstellung von gutem Benehmen in Frage, ebenso Gretls Liebe zu ihm. Das war ihr zu viel. Wie sie es später beschrieb, konnte sie nicht mehr an sich halten: »Ich bin ich & war furchtbar böse«, schrieb sie. Obwohl Norbert sie dann um Verzeihung bat und Hermine anrief, um sich zu entschuldigen, konnte Gretl den Wortwechsel nicht vergessen. »Bei mir bleibt der Stachel über«, erklärte sie; »eine verborgene Wunde schmerzt am meisten.«
Einige Tage später kam es zu einem Streit mit den Eltern. Als Hermine sie warnte, von ihr könne nichts Gutes kommen, blieb Gretl ungerührt. »Als ob ich das nicht schon lange wüsste«, bemerkte sie spöttisch. So reagierte sie auch auf einen Ausruf Hermines: »Und das soll heiraten! Mit dem unreifen Benehmen!« Doch dann betrat Hermine ein neues Terrain und erwähnte die finanziellen Opfer, die sie brachte, wenn Gretl auf Kredit kaufte und ihr Konto belastete. Sie sei übergewichtig und habe ein dummes Gesicht, hieß es zudem, was Gretl einen Stich versetzte. Zu allem Überfluss drückte sich Moriz so aus, als sei seine Zustimmung zu Gretls Verlobung nur zögernd erfolgt, und er meinte, er werde es noch bereuen, »dass er in
dem Fall
nachgegeben« habe.
Hoffmann
VIELE WIENER FAMILIEN der Jahrhundertwende entschieden sich dafür, nahe beieinander zu wohnen, oft in Wohnungen im selben Gebäude. Die Gallias und Hamburgers entsprachen diesem Muster. Nachdem Hermines Brüder Otto und Guido nach Wien gezogen waren, wohnten sie in der Schleifmühlgasse, und als Moriz und Hermine ihr Haus in der Wohllebengasse bauten, erwarteten sie, dass Erni, Gretl, Käthe und Lene nach ihrer Hochzeit je ein Stockwerk bewohnen würden, sodass die ganze Familie unter einem Dach war. Frau Stern allerdings warf solche Pläne über den Haufen, denn sie plante Ähnliches für ihr Haus im zweiten Bezirk, der Leopoldstadt. Sie bot Norbert und Gretl die obere Etage ihres zweistöckigen Hauses in der Unteren Augartenstraße an, und die beiden stimmten zu, obwohl Gretl die Wohnung noch gar nicht kannte.
Die Lage war ein Thema. In der Gegend hatte sich im 17. Jahrhundert das Ghetto befunden, und als Ende des 19. Jahrhunderts die jüdische Bevölkerung in Wien erneut zu wachsen begann, wurde die Leopoldstadt wieder der jüdischste Bezirk, in der allgemeinen Vorstellung ebenfalls eine Art Ghetto. Die Familien, die an den Hauptstraßen, etwa der Unteren Augartenstraße, wohnten, waren zwar im Allgemeinen wohlhabend, die Mehrzahl der Bewohner jedoch arm. 1880 lebten beinahe die Hälfte der Wiener Juden hier, 1910 mehr als ein Drittel. Noch vor ihrer Konversion hätten Moriz und Hermine etwas dagegen gehabt, dass jemand aus ihrer Familie dort wohnte, nachher erst recht. Sie wollten nicht, dass Gretls neues Heim dort lag, wo ein Großteil der Geschäfte am Sabbat geschlossen hatte, wo man weitum Jiddisch sprach und viele Männer und Frauen sich nach jüdischer Tradition kleideten.
Die Einrichtung der Wohnung machte noch mehr Ärger. Wie 1902, als Melanie Gallia Jakob Langer, und 1907, als Guido Hamburger Nelly Bunzl geheiratet hatte, verlangte die Konvention, dass wohlhabende Ehepaare in von Architekten gestalteten Wohnungen mit maßgefertigten Möbeln lebten. Moriz und Hermine erwarteten das auch von Gretl und Norbert. Da Hoffmann nach wie vor ihr Lieblingsarchitekt war, freuten sie sich wahrscheinlich darauf, dass er die Wohnungen ihrer Kinder einrichten würde. Falls die Kinder in der Wohllebengasse blieben, würde ihr Haus nicht nur eine Hoffmann-Wohnung, sondern gleich fünf enthalten.
Norberts Erwartungen sahen ganz anders aus. Als angehender Architekt wollte er sein Heim selbst entwerfen, und zwei Tage nach seiner Verlobung hatte er auch bereits mit der Planung begonnen. Bald beschäftigten er und Gretl
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