Wolf Shadow 01 - Wilks, E: Wolf Shadow 01
Fremder mehr sei. Sie fand das wahnsinnig clever.“
Lily blieb stehen und schaute zu den Möwen hoch, die ihre Kreise über dem glitzernden Meer zogen. An dieser Stelle geriet sie immer ins Stocken; es war der Punkt, an dem sie nicht weiterkam. Sie spürte einen Druck in der Brust, als stauten sich dort die Worte, und bekam fast keine Luft mehr.
Rule trat hinter sie und begann sanft ihre Arme zu reiben. Auf und ab, auf und ab. Die gleichmäßigen Bewegungen machten sie ruhiger. Es war ein gutes Gefühl. Er stand hinter ihr, ohne sie zu bedrängen, ohne Fragen zu stellen oder sie mit seinem Entsetzen, mit seinen Empfindungen zu konfrontieren. Er war einfach nur da.
Und mit einem Mal strömten die Worte nur so aus ihr heraus. „Er hat uns dazu gebracht, mit ihm zu seinem Auto zu gehen. Er hat nicht versucht, uns dazu zu überreden. Das hätte uns Angst gemacht. Er sagte einfach nur, er brauche jemanden, der ihm hilft, seine Picknicksachen zum Strand zu tragen, und dass wir doch bestimmt hilfsbereite kleine Mädchen seien. Wir gingen mit ihm. Wir dachten nicht an den Kofferraum und dass es gefährlich werden könnte.“ Lily hielt kurz inne.
„Er hat sie geschlagen. Da versuchte ich zu fliehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er mich auch geschlagen hat, aber irgendwann wurde ich in seinem Kofferraum wach. Mein Kopf schmerzte, und ich hatte mich übergeben. Das merkte ich an dem Geschmack in meinem Mund. Sarah weinte. Bei jeder Kurve stießen wir aneinander, aber wir konnten uns nicht sehen. Es war so dunkel. Es war, als könnte man nicht atmen, als raubte einem die Finsternis die ganze Luft …“ Angesichts der grauenhaften Erinnerungen stockte ihr der Atem.
„Ganz ruhig.“ Rule schlang die Arme um sie. „Ruhig ein- und ausatmen, Lily. Du bist in Sicherheit.“
Da irrte er sich. Es gab keine Sicherheit. Aber seine Arme fühlten sich tröstlich an. Lily lehnte sich an ihn, und nach einer Weile fuhr sie leise fort: „Er ist bis zum Abend durch die Gegend gefahren, dann hat er uns zu seinem Haus gebracht. Sarah war ein hübsches kleines blondes Mädchen in Rosa und Weiß. Das war ihr Unglück. Er hat mich gefesselt; ich sollte wohl später drankommen. Aber ich war dabei. Ich war dabei, als er sie vergewaltigt hat.“
Rule erschauderte.
„Ich glaube nicht, dass er beabsichtigt hatte, sie zu töten. Er sah so überrascht aus.“ Das war mit das Schlimmste gewesen. Die Überraschung in seinem Gesicht, als Sarah aufhörte, sich zu bewegen. Als ihre Beine nicht mehr strampelten und ihre Augen ins Leere starrten. Er hatte sie erwürgt, schien aber keinen Zusammenhang zwischen dem, was er getan hatte, und ihrem Tod herstellen zu können. „Er bekam Angst. Er wollte von mir bestätigt haben, dass es ein Unfall gewesen war, ein Missgeschick, und ich pflichtete ihm in allem bei, was er sagte.“
Rule ließ sein Kinn auf ihren Kopf sinken. Nun hielt er sie fest umschlungen, und es tat gut. Es half ihr. Er sagte kein Wort, und auch das tat gut. Sie blieb eine Weile regungslos stehen und nahm den Trost in sich auf, den er ihr schweigend spendete. „Ich habe Glück gehabt“, sagte sie schließlich. „Damals wusste ich es nicht, aber jemand hatte gesehen, wie er uns in den Kofferraum packte. Eine Joggerin. Sie hatte sich das Kennzeichen gemerkt. Die Polizei hatte schon stundenlang nach dem Wagen gesucht. Sie kamen gerade noch rechtzeitig … um mich zu retten. Für Sarah kam jede Hilfe zu spät.“
Sie schluckte. „Er hat mich nicht vergewaltigt. Der Polizeibeamte, der das Auto entdeckte, meldete es zwar sofort, aber er wartete nicht auf Verstärkung. Er trat die Tür ein. Er ist allein reingekommen, gegen die Vorschriften. Später sagte er, er habe das Gefühl gehabt, nicht länger warten zu dürfen. Er war damals Streifenpolizist, erst ein paar Jahre im Dienst. Er hieß Frederick Randall.“
„Scheiße.“
„Ja.“ Ihre Stimme zitterte, aber sie fasste sich wieder. „Deshalb musste ich zur Dienstaufsicht gehen. Wegen dieser Geschichte konnte ich nicht sicher sein, dass ich ihn unbefangen beurteile. Aber er fühlt sich von mir verraten. Ich habe ihn gekränkt.“
„Du hast gesagt, er sei durch und durch ein Cop. Das bedeutet, dem Job den Vorrang vor allem anderen zu geben. Und genau das hast du getan. Das wird er früher oder später einsehen.“
„Mag sein.“ Sie war nicht so recht davon überzeugt. Vielleicht, weil sie nicht sicher war, ob sie Randall jemals vergeben konnte, dass er ihr
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