Wolf Shadow 01 - Wilks, E: Wolf Shadow 01
zu sehen. Tiefblau war es an diesem Tag und glitzerte in der Sonne, die vom wolkenlosen Himmel herabschien. Vor zwanzig Jahren waren Himmel und Meer grau gewesen. Grau und düster.
Ihre innere Stimme drängte sie, es ihm zu sagen. Ihm zu vertrauen.
Aber sie konnte es nicht. Sie löste ihren Sicherheitsgurt. „Ich kann nicht darüber reden. Ich habe noch nie mit jemandem darüber geredet.“
„Noch nie?“ Er legte eine Hand auf ihre Schulter.
Lily spürte die Wärme sofort. Die Bindung. Sie schüttelte den Kopf.
„Ist schon gut. Du musst es mir nicht sagen, aber das Band der Gefährten ist nicht nur dem Sex zuträglich, sondern auch anderen Dingen, wenn du es zulässt.“
Lily schaute wieder aus dem Fenster und beobachtete die Möwen am strahlend blauen Himmel. Zuerst hatten alle mit ihr darüber reden wollen – die Cops, ihre Mutter, die Therapeutin. Sie war nicht dazu fähig gewesen. Einzelne Teile hatte sie zwar erzählt, aber noch nie die ganze Geschichte. Noch nie den schlimmsten Teil.
Aber das war schon lange her. Es hatte sie seither niemand mehr danach gefragt.
Vielleicht, so überlegte sie, war sie ja nun dazu in der Lage. Vielleicht hatte sie lange genug geschwiegen.
Sie bückte sich und zog ihre Schuhe aus. „Gehen wir zum Strand!“
Am Wasser war überraschend wenig los. Aber zu dieser Jahreszeit kamen Familien natürlich fast ausschließlich an den Wochenenden her.
„Jetzt brauchen wir nur noch einen Sonnenuntergang“, sagte Lily, „dann ist es wie in der Werbung. Wir geben doch ein perfektes kalifornisches Paar ab – barfuß, Hand in Hand, am Strand. Und du bist ja weiß Gott fotogen genug.“
„In Spots dieser Art lächeln die Leute aber immer.“
„Das ist mir gerade vergangen.“ Sie war sich nicht sicher, ob sie es konnte oder überhaupt wollte. „Machen wir es kurz.“
„Gut. Du kennst Ginger von früher.“
„Es ist jetzt zwanzig Jahre her. Letzten Monat waren es zwanzig Jahre.“ War es verrückt, auf den Tag genau zu wissen, wie lange es her war? Nein, dachte sie. Traurig vielleicht, aber unabänderlich. „Ihre Schwester war in der Grundschule meine beste Freundin. Ich habe oft bei ihr übernachtet und nach der Schule mit ihr gespielt. Also habe ich auch Ginger oft gesehen.“
„Gefiel sie dir früher besser?“
Lily lächelte bitter. „Nein. Sie war die große Schwester, die natürlich auf uns Kleine herabgesehen hat. Aber damals war Ginger ein braves Mädchen, ob du es glaubst oder nicht. Sarah …“ Ihr stockte der Atem. Es kam nicht oft vor, dass sie diesen Namen laut aussprach. „Sarah war diejenige, die immer Dummheiten gemacht hat.“
„Dass du jemals Dummheiten gemacht hast, kann ich mir nur schwer vorstellen.“
„Ich war ein ziemlicher Tugendbold. Ich habe brav meine Hausaufgaben gemacht, mich nie vorgedrängelt und nicht im Unterricht gequasselt. Aber Sarah hat mich irgendwie lockerer gemacht. Sie hat mich zu allem Möglichen überredet. Einmal haben wir die Schule geschwänzt“, erzählte Lily abgehackt.
Rules Hand lag warm und entspannt um ihre. „Keine große Sache.“
„Sollte man meinen.“ Lily ging eine Weile schweigend weiter, doch das Blut schien plötzlich schneller durch ihren Körper zu pulsieren, als wollte es sie drängen fortzufahren. „Wir konnten unsere Lehrerin nicht leiden, und irgendwie fanden wir es nur vernünftig, sie mit Schwänzen zu bestrafen. Wir hatten alles genau geplant: wie wir uns vor Unterrichtsbeginn wegstehlen wollten, welchen Bus wir nehmen würden und so weiter. Aber das Wetter hatten wir nicht einkalkuliert. Es gab ein schweres Gewitter, und es war kaum jemand am Meer. Zuerst waren wir sauer, aber dann fanden wir es cool. Wir hatten den Strand fast für uns allein.“
„Was ist passiert, Lily?“
„Wir wurden entführt.“
Rule sog hörbar die Luft ein. Seine Finger umklammerten ihre einen Moment lang so fest, dass es schmerzte.
„Er war ein freundlicher Mann.“ Im Grunde war es nur die Schilderung eines Tathergangs, dachte sie. Sie hatte schon unzählige Berichte über genauso üble und noch schlimmere Fälle verfasst. „Er erinnerte mich an den Weihnachtsmann, nur ohne Bart. Er wirkte großväterlich. Er fing einfach an, mit uns zu reden, und hat uns aufgezogen, weil wir die Schule schwänzten. Zuerst habe ich ihm nicht geantwortet. Ich habe Sarah gesagt, dass wir nicht mit Fremden sprechen dürften. Da hat sie ihn nach seinem Namen gefragt, ihn mir vorgestellt und gesagt, dass er nun kein
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