Wolf Shadow Bd. 8 - Tödlicher Zauber
gesehen zu haben.«
Ihre Augenbrauen wanderten höher. »Dann geht es also tatsächlich um ein Forschungsprojekt.«
Er winkte ab. »Aus rein persönlichem Interesse. Ich bezweifle, dass ich es je veröffentlichen werde. Zu viele der Berichte sind rein anekdotisch.«
»Und warum haben Sie ein persönliches Interesse an der Frage, wer Geister sieht?«
Er stieß einen langen Seufzer aus. »Ich nehme an, es ist nur fair, dass ich darauf antworte, wenn ich Sie nachher bitte, meine indiskreten Fragen zu beantworten. Vor fünfzehn Jahren habe ich den Geist meiner Mutter gesehen.«
» Oh.« Sie waren bei den Getränkewannen angekommen. Lily nahm sich eine Dose Diätcola und zog den Verschluss auf. »Da Sie kein Medium sind, muss es wohl die enge emotionale Bindung gewesen sein. Ich habe gehört, das gibt es manchmal.«
»Sie war nicht tot.«
Die Dose verharrte kurz auf halbem Wege zu Lilys Lippen. Erst dann nahm sie einen Schluck. »Dann könnte es … ich weiß nicht … eine Astralreise gewesen sein? Hatte sie eine Gabe?«
»Nein. Ich sah ihren Geist um fünf Minuten nach Mitternacht – eine ausgesprochen passende Zeit, nicht wahr? – und sie starb um zwölf Uhr neunundvierzig.«
Das verlieh der Geschichte eine unerwartete Wendung.
»Interessant ist auch«, fuhr er fort, »dass sie Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium hatte. Sie lebte zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren in einem Pflegeheim in Cambridge und hatte seit einem Jahr nicht mehr gesprochen. In dieser Nacht hielt ich mich hier in Washington auf, um mich mit einem, ähm, Mitglied der Regierung zu treffen, und schlief tief und fest in meinem Hotelzimmer. Plötzlich wachte ich auf und hatte das Gefühl, dass sich jemand über mich beugte … und da war sie. Sie trug ein blassblaues Nachthemd und einen Bademantel, wie damals, als ich noch klein war, und sie roch nach White Shoulders. Mein Vater schenkte ihr jedes Jahr zu Weihnachten White Shoulders, und sie trug den Duft jeden Tag bis zu seinem Tod. Danach nie wieder. Ihr Haar war braun und gelockt. Und die Brille, die sie die letzten vierzig Jahre ihres Lebens getragen hatte, war weg. So wie auch alle anderen Zeichen des Alterns … Sie deckte mich zu«, endete er schlicht. »Gab mir einen Kuss, lächelte, und dann war sie fort. Als ich mich umsah, fiel mein Blick auf den Wecker, dessen Anzeige in diesem Moment auf zwölf Uhr sechs wechselte.«
»Meine Güte.«
»Der Duft von White Shoulders war noch ein paar Minuten danach zu riechen.«
»Das ist ja unglaublich. Das war bestimmt … « Lily schüttelte den Kopf. Ihr fiel kein anderes Wort als »überwältigend« ein, um eine solche Erfahrung zu beschreiben. »Hat sie Sie tatsächlich zugedeckt? Ich meine, hat sich die Decke wirklich bewegt? Haben Sie den Kuss gespürt?«
»Beides Mal: nein. Ihre Handlungen hatten keine Wirkung auf die stoffliche Welt.«
»Aber Sie haben ihren Lieblingsduft gerochen.« Duft war stofflich, aber auch die Erinnerung an einen Duft konnte im Gehirn ausgelöst werden. Das war also kein Beweis, dass sie tatsächlich körperlich anwesend gewesen war. »Sie erwähnten die Farbe ihres Haars und ihres Nachthemdes. Sah sie aus, als wäre sie fest?«
»Fast.« Sein Ton wurde träumerisch. »Sie war ungewöhnlich klar und deutlich zu sehen, aber nicht ganz fest, nein. Ich wusste sofort, dass sie ein Geist war.«
»Und Sie sind sich sicher, was die Uhrzeit betrifft?«
»Wie ich schon sagte, ich sah, dass die Anzeige umsprang. Sobald sie verschwunden war, rief ich das Pflegeheim an und bat darum, nach ihr zu sehen. Man stellte fest, dass sie unter Atemnot litt, aber nach den Werten, anhand derer wir Leben feststellen, noch am Leben war. Von da an kümmerte sich medizinisches Fachpersonal um sie. Um zwölf Uhr neunundvierzig setzten Herz und Atmung aus.«
»Ein Geist, der vor dem Tod erscheint. Das habe ich noch nie gehört.« Sie überlegte. »Ist ein solcher Besucher wirklich ein Geist? Eine Bekannte, die ein hochbegabtes Medium ist, würde wohl sagen: Das hängt davon ab, wie wir den Begriff Geist definieren.«
»Ganz genau.« Er lächelte – wie der kleine Junge, der er gewesen war, damals, als eine Frau im blassblauen Nachthemd ihn jeden Abend zugedeckt hatte. »Damals begann ich mit meinem kleinen Hobby, Geistergeschichten zu sammeln. Zuerst war ich nach denen auf der Suche, die meiner eigenen ähnelten – und fand auch ein paar – , dann aber fing ich an, mich für die Frage zu interessieren, wie und warum
Weitere Kostenlose Bücher