Wolf unter Wölfen
bedeuteten ihm nichts, und er wurde mit seinem verschlagenen, bösen Herrn so selbstverständlich fertig wie ein Kind mit seiner Puppe. So ist es aber einmal auf dieser seltsamen Erde eingerichtet: die Sorgen, die dem einen das Herz abdrücken, die spürt der andere gar nicht.
Als der Diener Elias bei der Villa angekommen war, ging er mit seinem Brief nicht vorne die Treppe hinauf zu der am gestrigen Sonnabend feiertäglich vom Diener Räder geputzten Messingklingel, sondern er ging um die Villa herum und die Zementstufen in das Souterrain hinab, und gegen die Tür dort klopfte er nicht zu laut und nicht zu leise, wie es sich eben gehört. Es rief keiner »herein«, und so öffnete Elias die Tür und stand in der Küche, in der eine ganz sonntägliche Stille und Sauberkeit herrschte. Nur der Kessel mit dem Teewasser zum Abend summte sacht über der sinkenden Flamme. Der alte Elias sah sich um, aber es war niemand in der Küche. So nahm er denn den Kessel, schüttete ihn über dem Ausguß aus und stellte ihn leer beiseite, denn er wußte, daß die junge gnädige Frau ihren Tee von frisch kochendem Wasser aufgebrüht haben wollte, nicht von abgestandenem.
Dies verrichtet, ging Elias durch eine Tür im Hintergrundder Küche auf den dunklen Gang, der das Kellergeschoß der Villa in zwei Teile zerschnitt. Auf dem Gang machte sein Stock deutlich »tapp, tapp«, außerdem hüstelte der alte Elias, und zum Überfluß klopfte er noch an die Tür. Aber vielleicht wären alle diese Anmeldungen nicht nötig gewesen, denn der Diener Räder saß ganz still und steif in seinem kahlen Zimmer auf dem bretternen Stuhl, hatte die Hände in den Schoß gelegt und sah starr mit seinen fischigen Augen auf die rohe Tür, als hätte er schon seit Stunden so gesessen.
Als der Diener Elias aber eintrat, stand der Diener Räder von seinem Stuhl auf, nicht zu langsam und nicht zu schnell, wie es sich eben gehörte, und sagte: »Guten Tag, Herr Elias, wollen Sie bitte Platz nehmen …«
»Guten Tag, Herr Räder«, antwortete der alte Elias. »Ich beraube Sie ja …«
»Ich stehe gerne«, erklärte Räder. »Das Alter soll man ehren.«
Und er nahm dem andern Hut und Stock aus den Händen. Den Hut hängte er auf einen Haken, und den Stock lehnte er in eine Ecke. Darauf stellte er sich mit dem Rücken an die Tür, dem Diener Elias gegenüber, aber durch die ganze Länge der Kammer von ihm getrennt.
Mit einem großen, gelblichen Tuch trocknete sich Elias seine Brauen und Stirn und sagte dabei freundlich: »Ach ja, ach ja – es ist heiß heute. Herrliches Erntewetter …«
»Davon weiß ich nichts«, sagte Räder abweisend. »Ich sitze hier in meinem Keller. Und mit der Ernte habe ich nichts zu tun.«
Elias faltete das Tuch umständlich zusammen, steckte es in die Rocktasche und brachte dafür den Brief zum Vorschein: »Ich habe da einen Brief für Herrn Rittmeister.«
»Von unserm Schwiegervater –?« fragte Räder. »Herr Rittmeister ist oben. Ich werde Sie gleich anmelden.«
»Ach ja, ach ja!« seufzte der alte Elias und sah den Brief an, als läse er die Adresse. »Da schreiben sich die Verwandten nun Briefe. Was man nicht von Mund zu Mund sagenkann, Herr Räder, das sollte man auch nicht in Briefe schreiben …«
Er sah die Adresse noch einmal mißbilligend an und legte den Brief gedankenverloren auf das Rädersche Bett.
»Ich bitte doch sehr, Herr Elias!« sagte Räder streng, »nehmen Sie den Brief von meinem Bett!«
Der alte Mann griff seufzend nach dem Brief.
Ruhiger sprach Räder: »Die Briefe von unserm Schwiegervater haben uns noch nie Gutes gebracht – Sie dürfen ihn ruhig selbst abgeben. Ich melde Sie an, Herr Elias.«
»Lassen Sie einen alten Mann sich doch verpusten«, klagte der Alte. »So eilig ist es ja wohl auch nicht, am Sonntagnachmittag.«
»Natürlich, daß der Herr Rittmeister unterdes spazierengeht, und ich kriege den ersten Zorn ab«, grollte Räder.
»Wir sind drüben in Sorge um unser Enkelkind«, sagte der alte Elias. »Wir haben Fräulein Violet seit fünf Tagen nicht im Schloß gesehen.«
»Schloß! Das ist eine Lehmscheune, Herr Elias!«
»Ist unser Weiochen krank?« schmeichelte der alte Mann.
»Den Doktor haben wir nicht hiergehabt«, sagte Herr Räder.
»Aber was macht sie bloß?! Ein junges Mädchen – und sitzt bei dem schönen Wetter im Haus!«
»Ihr ›Schloß‹ ist doch auch ein Haus – ob sie da sitzt oder hier, das ist doch einerlei!«
»Also sie kommt wirklich gar nicht raus
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