Wolf unter Wölfen
bin ich aber ungefährlich, das ist wieder ein Vorteil, gnädiges Fräulein.«
»Ja, das sind Sie wirklich!« meinte Weio verächtlich. »Ich möchte wirklich wissen, wie Sie sich anstellen würden, wenn …«
»Wenn was –? Ach, sagen Sie es doch bitte, gnädiges Fräulein! Oder haben Sie Angst –?«
»Angst vor Ihnen –?! Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Ich meine, wie Sie sich anstellen würden, wenn Sie einem Mädchen einen Kuß geben wollten?!«
»Ja, das weiß ich auch nicht«, gestand Pagel kläglich. »Die Wahrheit zu sagen, gnädiges Fräulein, ich habe es mir schon tausendmal überlegt, aber ich bin so schüchtern, und da …«
»Was?« fragte Weio und sah ihn überlegen an. »Sie haben noch nie einem Mädchen einen Kuß gegeben?!«
»Hundertmal habe ich es mir vorgenommen, auf Ehrenwort, gnädiges Fräulein! Aber der Mut, in der entscheidenden Sekunde …«
»Wie alt sind Sie –?«
»Beinahe vierundzwanzig …«
»Und Sie haben noch nie ein Mädchen geküßt?«
»Ich sage Ihnen doch, gnädiges Fräulein, meine Schüchternheit …«
»Feigling!« rief sie voll tiefster Verachtung.
Eine Weile gingen beide schweigend die Allee hoher Linden hinunter, die auf den Teich zuführte.
Dann fing Pagel wieder vorsichtig an: »Gnädiges Fräulein, darf ich Sie was fragen?«
Ungnädig: »Na, man los, Sie – Held!«
»Aber Sie dürfen mir auch nicht böse werden!«
»Fragen Sie!«
»Bestimmt nicht?«
Sehr ungeduldig: »Nein! Fragen Sie doch!«
»Also – wie alt sind Sie, gnädiges Fräulein?«
»Sie Schafskopf! – Sechzehn!«
»Sehen Sie, da werden Sie schon böse – und ich fange doch erst mit Fragen an.«
Wütend mit dem Fuß aufstampfend: »Also fragen Sie doch schon – Sie Jammerkerl!«
»Und Sie werden auch bestimmt nicht böse –?«
»Sie sollen
fragen
–!!!«
»Gnädiges Fräulein – haben Sie schon mal – einen Mann geküßt –?«
»Ich?« Sie denkt nach. »Natürlich. Hundertmal.«
»Das glaube ich nicht!«
»Tausendmal!«
»I was!«
»Doch – den Papa nämlich!« Und sie bricht in ein schallendes Gelächter aus.
»Na also!« sagt Pagel schließlich, als sie sich beruhigt hat. »Sie haben auch nicht den Mut.«
Weio ist empört: »Ich habe nicht den Mut –?«
»Nein, Sie sind genauso feige wie ich.«
»Doch habe ich einen Mann geküßt! Nicht bloß den Papa. Einen jungen Mann, einen mutigen Mann« – ihre Stimme singt jetzt fast –, »nicht so einen Jämmerling wie Sie …«
»Das glaube ich nicht …«
»Doch … Doch … Er hat sogar einen Schnurrbart, eine kleine blonde Bürste, die sticht – und Sie haben keinen!«
»Na also!« sagt Pagel niedergeschlagen. »Und Sie sind wirklich erst sechzehn, gnädiges Fräulein?«
»Ich bin sogar erst fünfzehn«, erklärt sie triumphierend.
»Sie haben aber Mut«, sagt er bewundernd. »Ich würde nie so mutig sein können. Aber natürlich«, tröstet er sich, »habenSie nie einen Mann geküßt. Sie haben sich nur von einem Mann küssen lassen. Das ist noch etwas anderes! So einen Mann beim Kopf kriegen und abküssen, das könnten Sie auch nicht.«
»Das könnte ich nicht?« ruft sie mit flammenden Augen. »Was denken Sie denn von mir?«
Er schlägt vor ihren Blicken die Augen nieder. »Bitte, bitte, gnädiges Fräulein! Ich habe nichts gesagt. Doch, doch, Sie können es, ich glaube es auch so … Bitte, bitte, tun Sie es nicht … Ich habe solche Angst …«
Aber sein Flehen hilft ihm nichts. Ihre flammenden Augen, ihr halbgeöffneter Mund sind ihm näher gekommen, er mag Schritt für Schritt hinter sich treten. Und nun legt sich ihr Mund auf den seinen …
Doch im gleichen Augenblick spürt Weio eine Verwandlung. Als hätten ihre Lippen ihm Kraft eingeflößt, fühlt sie sich eisern festgehalten zwischen seinen Armen, seine Lippen erwidern den Kuß … Jetz will sie sich ihm entziehen, jetzt bekommt sie Angst … Aber der Kuß dieser Lippen wird heißer und heißer, noch möchte sie widerstreben, und schon fühlt sie sich nachgeben. Der eben noch stolz aufgerichtete Kopf fügt sich, schmiegt sich … Ihr Rücken wird weich, sie hängt in seinen Armen …
»Oh!« seufzt sie und geht schon unter in dem lang entbehrten Meer. »Oh, du …«
Aber sein Arm hält sie nicht mehr, er stellt sie zurück, fest auf die Erde. Sein Gesicht ist wieder fern ihrem Gesicht, es sieht jetzt ernst aus, nichts mehr von dem Lächeln …
»So, gnädiges Fräulein, das war das!« sagt Pagel ruhig. »Wer so schwach wie Sie
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