Wolf unter Wölfen
sagen? Es ist ja doch alles aus!«
»Es ist alles aus?«
»Ja, ja«, weint sie. »Seit drei Wochen kommt er doch schon nicht mehr.«
Er denkt nach, er überlegt.
(Es ist unvermeidlich, daß in dieser Sekunde das Bild einer – ach! entschwundenen – Petra vor seinen Augen steht. Schon seit vielen Sekunden. Schon, als er diese Lippen unter den seinen spürte, diesen Körper schwach werden fühlte, der sofort der Verlockung der Lust nachgab, nicht der Lockung der Liebe. – Schon stieg das Bild auf, fern, aber klar, ein Gesicht, hold und gefaßt, aus den Zeiten ihn grüßend. Er wollte es nicht, aber ohne es zu wollen, mußte er fortwährend vergleichen: Was hätte sie hier getan? Hätte sie das gesagt? So würde sie nie gehandelt haben …
Und das holde, ferne Gesicht, tausendmal angesehen, das Gesicht des Mädchens, das ihn verlassen hatte, das er verlassen hatte, triumphierte über das Gesicht der behüteten höheren Tochter.
Es triumphierte – und aus dem Triumph der Verlassenen kam es wie eine Mahnung, wenigstens zu dieser gut zu sein, ihr nicht die ganze Last aufzuladen … Bist du bei mir zu hart gewesen, sei es nicht wieder bei dieser! klang es.)
Er denkt nach, er überlegt, sie liest auf seinem Gesicht.
»Was ist er?« fragt er.
»Leutnant.«
»Bei der Reichswehr?«
»– ja!«
»Kennen ihn Ihre Eltern?«
»Ich – glaube nicht. Ich weiß nicht genau.«
Wieder denkt er nach. Daß es ein Offizier ist, ein Mann also, der, er mag sein, wie er will, einem gewissen Ehrenkodex unterliegt, ist eine kleine Beruhigung. Wenn der Junge sich einmal vergessen hat, sich dann erschrocken zurückzog, ist es gewissermaßen nicht so schlimm. Dann war’s irgendeine Unüberlegtheit, vielleicht im Rausch – keine Wiederholung ist zu fürchten. Man müßte das wissen. Er müßte fragen. Er sieht sie prüfend an. Aber kann man denn ein so junges Mädchen fragen, ob es nur einmal geschah, ob es Folgen hatte –?
Wenn es nur einmal geschehen ist, denkt er, war es eine Unüberlegtheit. Ist es mehrere Male geschehen, war es eine Gemeinheit.
Dann muß man es den Eltern sagen.
Er sieht sie wieder an. Nein, er mag nicht danach fragen. Vielleicht muß er sich später Vorwürfe machen, aber er mag es nicht. (Wieder das ferne Bild.)
»Es ist bestimmt ganz aus?« fragt er noch einmal.
»Ganz bestimmt!« beteuert sie.
»Sie schwören das?« fragt er, obwohl er weiß, wie nutzlos solche Schwüre sind.
»Ich schwöre es!«
Er hat ein ungemütliches Gefühl. Irgend etwas stimmt nicht, in irgendeinem Punkt muß sie ihn belogen haben.
»Wenn ich schweigen soll, müssen Sie mir eines versprechen. Aber ehrenwörtlich.«
»Ja, gerne …«
»Wenn dieser Herr – Leutnant sich wieder an Sie wenden sollte, geben Sie mir sofort Nachricht. Versprechen Sie mir das? Geben Sie Ihre Hand!«
»Ehrenwort!« sagt sie und gibt ihm ihre Hand.
»Also gut. Gehen wir. Suchen Sie irgendeinen Vorwand, daß Sie mir heute abend möglichst spät Ihren Diener Räder rüberschicken.«
»Großartig!« ruft sie begeistert. »Was werden Sie mit ihm machen?«
»Ich werde den Jungen sein eigenes Geschrei hören lassen«, sagt er grimmig. »Er wird Sie nicht wieder quälen.«
»Und wenn er zu Papa läuft?«
»Das müssen wir riskieren. Aber er wird nicht zu Papa laufen, ich werde ihm so angst machen, daß ihm die Lust dazu vergeht. Erpresser sind immer feige.«
»Horchen Sie mal, ob die auf dem Büro noch reden? Gott, ich sehe sicher schrecklich aus. Bitte, geben Sie mir mal schnell Ihr Taschentuch, ich muß meins verloren haben – nein, ich habe gar keins eingesteckt. Sie will ich nie wieder belügen, selbst nicht in Kleinigkeiten. Gott, was sind Sie für ein Kerl, das hätte ich nie gedacht. – Wenn ich nicht schon verliebt wäre, würde ich mich auf der Stelle in Sie verlieben.«
»Die Sache ist aus, gnädiges Fräulein«, sagt Pagel trocken. »Vergessen Sie das bitte nicht. – Sie haben es mir geschworen.«
»Aber natürlich. Und nun denken Sie, daß Sie –«
Pagel hebt die Achseln. »Mein liebes gnädiges Fräulein«, sagt er, »niemand kann einem Menschen helfen, der mit Gewalt in den Dreck will. Mir ist wirklich nicht nach Witzen zumute. – So, und nun wollen wir uns mal unter dem Fenster bemerkbar machen. Die Debatte dort drin scheint wirklich uferlos.«
4
»Gnädige Frau«, hatte Herr von Studmann gesagt und Frau von Prackwitz den Schreibtischstuhl zurechtgerückt, den der Rittmeister seiner Frau gerne einräumte.
Weitere Kostenlose Bücher