Wolf unter Wölfen
der Mücken über den Gartenbüschen.
»Was wollen Sie denn haben, Hubert? Ich weiß wirklich nichts …«
Sie vermeidet es, in sein Gesicht zu sehen. Sie blickt im Zimmer umher, als suchte sie etwas unter den Gegenständen hier, was sie ihm schenken könnte … Er aber sieht sie immer eindringlicher an, sein totes Auge bekommt Leben, auf den Backenknochen sitzt ein roter Fleck …
»Wenn ich Stellung und Ruf für das gnädige Fräulein riskiere, möchte ich das Fräulein Violet auch um etwas bitten dürfen …«
Sie wirft einen blitzschnellen Blick auf ihn und sieht sofort wieder weg. Etwas von der schon einmal vor ihm empfundenen Angst steigt in ihr hoch. Sie wird trotzig, sie will dagegen an, sie versucht ein Lachen, sie fordert ihn heraus: »Sie wollen doch nicht etwa einen Kuß von mir, Hubert?!«
Er sieht sie unverwandt an, ihr Lachen ist schon wieder vorbei, es hat häßlich und falsch geklungen. Mir ist nicht zum Lachen, denkt sie.
»Nein, keinen Kuß«, sagt er fast verächtlich. »Ich bin nicht für die Knutscherei …«
»Aber was denn, Hubert? Sagen Sie doch endlich …«
Sie vergeht vor Ungeduld. Er aber hat erreicht, was er wollte: ihr ist auch der tollste, aber ausgesprochene Wunsch lieber als dieses peinvolle, ungewisse Warten.
»Es ist nichts Ungebührliches, was ich mir von dem gnädigen Fräulein erbitte«, sagt er mit seinem alten, steifen, lehrhaften Ton. »Es ist auch nichts Unanständiges … Ich möchte nur meine linke Hand eine Weile auf das Herz vom gnädigen Fräulein legen dürfen …«
Sie schweigt, jetzt sieht sie ihn an, vorgebeugt, mit weit geöffneten Augen. Sie bewegt die Lippen, sie möchte etwas sagen, aber sie schluckt nur und schweigt wieder.
Er macht keine Bewegung, ihr näher zu kommen. Er steht in seiner ordentlichen Dienerhaltung unter der Tür, er hat eine livreeartige Jacke mit grauen Wappenknöpfen an, auf seinem ölglänzenden Scheitel liegt jedes Haar ordentlich.
»Da das gnädige Fräulein unterrichtet sind«, sagt er wieder in seinem leblosen Ton, »darf ich sagen, daß ich nichts Unkeusches im Sinne habe. Es kommt mir nicht auf die Berührung der Brust an …«
Sie verharrt in ihrer Starre. Er sieht zu ihr hinüber. Sie sind fast durch die ganze Zimmerbreite getrennt.
Der Diener Hubert Räder macht so etwas wie eine ganz leichte Verbeugung. (Sie hat sich nicht bewegt, sie ist ganz starr.) Er geht langsam durch das Zimmer auf sie zu – ohne Bewegung sieht sie ihn näher kommen: so erwartet das schreckstarre Opfer den tödlichen Schlag des Mörders. – Er sieht sie an …
Dann legt er den Brief vor sie auf den Tisch zurück, dreht sich um und geht gegen die Tür.
Sie wartet, sie wartet endlos lange, er faßt schon nach der Klinke, da bewegt sie sich. Sie räuspert sich – und Hubert Räder dreht sich wieder um, sieht sie an … Sie will etwas sagen, aber die Bezauberung liegt über ihr, sie deutet nur mit einer fahrigen, wirren Bewegung auf den Brief – und denkt doch gar nicht mehr an Brief und Empfänger …
Der Mann hebt die Hand, er dreht an dem Lichtschalter neben der Tür, und das Zimmer liegt im Dunkeln.
Sie möchte schreien, es ist so dunkel, sie steht hinter dem Tisch, sie sieht nichts von ihm, nur die beiden Fensterrechtecke, schräg links, treten grau aus dem Dunkel heraus. Sie hört nichts von ihm, immer geht er so leise, ach, wäre er nur erst da –!
Stumm, stumm, kein Laut, kein Atemzug …
Wenn ich schreien könnte, aber ich kann ja nicht einmal atmen!
Und nun fühlt sie seine Hand auf ihrer Brust. Leiser kann sich kein Schmetterling auf der Blüte niederlassen, doch mit einem Schauder, der ihren ganzen Leib schüttelt, weicht sie zurück … Die Hand folgt dem ausweichenden Leib, sie legt sich kühl über die Brust … Sie kann nicht mehr zurückweichen, auch der Schauder vergeht … Kühl dringt es durch den leichten Stoff des Sommerkleides, Kühle dringt durch die Haut, dringt bis zum Herzen vor …
Die Angst ist vorbei, sie fühlt die Hand nicht mehr, nur eine immer tiefer eindringende Kühle …
Und die Kühle ist Ruhe …
Sie hört keinen Laut, sie möchte etwas denken, sie möchte sich sagen: Es ist ja nur der Hubert, ein ekliger, lächerlicher Kerl … Aber es wird nichts daraus. Es fliegt fort, wie in Fetzen die Bilder aus dem Ehebuch durch ihren Kopf wehen, einen Augenblick sieht sie die Seiten, wie in hellem Lampenlicht, die eckige Form der Buchstaben – und vorbei …
Nun hört sie eine Melodie, ganz deutlich
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