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Wolf unter Wölfen

Wolf unter Wölfen

Titel: Wolf unter Wölfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Fallada
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ein Mann, ohne den Beamten zu fragen. Ehe einer auch nur drei Schritte weiter war, würde ihm die Kugel im Leibe sitzen. Denn es wurde sofort ohne Warnung scharf geschossen, das wußten sie. Gewiß, theoretisch gab es die Möglichkeit, daß sich zwei oder drei opferten, um den andern die Freiheit zu verschaffen. Wenn der Wachtmeister sich leer geschossen hatte, konnten bis zum nächsten Laden, bis zum Hochreißen der Knarre die andern laufen. Aber praktisch gab es solchen Opfermut bei Zuchthäuslern nicht, hier dachte jeder bestimmt nur an sich und war bereit, alle zu opfern, nur nicht sich selbst.
    Nein, hier draußen würde sich bestimmt nichts ereignen, eher noch in der Kaserne. Marofke spielte ein gefährliches Spiel heute mittag, Pagel schwor sich, mit der Knarre wenigstens am Fenster draußen zu stehen. Und vielleicht wagte Marofke dieses Spiel für nichts, für Einbildungen, für Gespenster …
    Langsam fährt Pagel weiter, während des Fahrens denkt er nach. Was ihn von vielen jungen Leuten und den meisten alten unterscheidet, ist dieses Nachdenken, ein selbständiges, beharrliches Nachdenken, eine Suche nach Verstehen. Er war nicht für die gebahnten Straßen der andern, er wollte seinen eigenen Weg. Alle in Neulohe hielten den Oberwachtmeister Marofke für einen faulen, eingebildeten, albernen Affen. Das beeinflußte Wolfgang Pagel nicht, er war völlig anderer Ansicht. Und wenn Marofke sagte, es war etwas nicht in Ordnung mit seinen Leuten, so war es töricht, einfach zu antworten: »Das ist Quatsch!« – so schwach die Begründung auch sein mochte, die Marofke für seine Ansicht hatte.
    In einem Punkte hatte der Oberwachtmeister jedenfalls recht: er, der Pagel, verstand nichts von Zuchthäuslern, aber er, der Marofke, verstand sehr viel von ihnen. Wenn Pagel mit den Leuten sprach, so waren sie sehr nett zu ihm, sie machten Späßchen, treuherzig erzählten sie von ihren Leiden im »Bunker« und in der Welt draußen. Auf ihn machten sie einen harmlosen, ein bißchen zu freundlichen Eindruck.Aber falsch mußte dieser Eindruck sein, das war bei einigem Überlegen sofort einzusehen, sie konnten gar nicht harmlos und freundlich sein.
    »Lassen Sie sich bloß nicht die Augen verblenden, Pagel!« hatte Marofke nicht umsonst zehnmal zu ihm gesagt. »Vergessen Sie nicht, sie sind Zuchthäusler geworden, weil sie etwas Schuftiges getan haben. Und einmal Schuft, immer Schuft. Im Gefängnis kann mancher dazwischensitzen, der aus Not, aus Eifersucht gehandelt hat – wer im Zuchthaus sitzt, hat immer was Gemeines getan!«
    Ja, und sie taten dabei harmlos. Der Oberwachtmeister hatte recht: dieser Harmlosigkeit durfte man nicht trauen. Darin unterschied sich eben Marofke von den andern Beamten: er schlief nicht ein, sein Argwohn war immer wach. Er vergaß nicht eine Minute, daß in einer schließlich und endlich ganz unzureichend gesicherten Schnitterkaserne fünfzig schwere Verbrecher saßen und daß diese fünfzig, losgebrochen, eine unendliche Summe Unglück für ihre Mitmenschen bedeuten konnten.
    »Aber sie kommen ja doch in einem Monat, in drei Monaten, in einem halben Jahr raus!« hatte Pagel eingewendet.
    »Natürlich – dann aber kommen sie mit einer polizeilichen Abmeldung, in Zivilkluft, mit ein bißchen Geld für den Anfang raus. Wenn sie aber ausreißen, ist gleich ihre erste Straftat, sich Zivilkleidung zu besorgen: Diebstahl, Einbruch, Überfall … Sie können nirgendwo angemeldet wohnen, sie müssen bei Verbrechern unterkriechen oder bei Huren, die nichts umsonst tun. – Also müssen sie sich Geld verschaffen: Diebstahl, Betrug, Hochstapelei, Einbruch, Überfall … Verstehen Sie nun, was das für ein Unterschied ist: Entlassung oder Ausreißen?!«
    »Geht in Ordnung!« sagte Pagel.
    Der Mann Marofke hatte recht, und die andern hatten unrecht, sie hatten auch darin unrecht, wenn sie behaupteten, Marofke drücke sich vom Dienst, weil er daheim blieb. (Der Rittmeister hatte ja gleich gesagt, Marofke sei ein Drückeberger.)Aber Pagel sah wohl, was für eine stumpfsinnige, gleichgültige Beschäftigung man aus dem Stehen hinter der Kolonne machen konnte. Verdammt noch mal! Marofke war nicht stumpfsinnig, er zergrübelte sich den Kopf, ein paarmal hatte er schon gestöhnt: »Ach, Fähnrich, wenn ich doch erst wieder heil mit meinen fünfzig Husaren daheim wäre! Erst freut man sich auf das Kommando, die frische Luft, das Essen, das man der Frau spart – und nun zähle ich schon immer: noch sechs Wochen,

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