Wolf unter Wölfen
Karabinerlauf hart vor die Brust.
»Nicht schießen, Herr Wachtmeister!« brüllten zwei, drei Stimmen. »Wir holen ihn …«
Einen Augenblick nur zögerte der Wachtmeister – und zwei, drei weitere Gestalten verschwanden in den Fichten.
»Steht!« schrie der Wachtmeister und schoß.
Der Knall, trocken und gar nicht laut, klang lächerlich gering gegen den Tumult der Gefangenen. Jetzt wurde auch oben geschossen.
»Antreten zu vieren!« brüllten Stimmen.
Pagel sah einen fünften Mann gegen die Fichten laufen, er setzte ihm nach.
»Bleiben Sie stehen, Sie Dummkopf! Ich kann ja nicht schießen!« brüllte der Beamte.
Pagel zögerte, warf sich hin, über ihm pfiffen die Kugeln. Man hörte es in den Fichten klatschen.
Fünf Minuten später waren die Leute zum Abmarsch aufgestellt, gezählt und die Namen der fehlenden ermittelt. Es fehlten fünf Mann. Ihre Namen lauteten: Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt, Holdrian.
Großer, weiser Marofke! dachte Pagel und schämte sich kräftig der eigenen Torheit. (Wie oft hatte ihm Marofke verboten, mit dem Beamten während der Wache ein Gespräch anzufangen! Wie schafsdumm war es von ihm, einem Ausreißer nachzulaufen, nachdem ihm schon zwei Gefangene demonstriert hatten, wie gut solch Nachlaufen eine Flucht deckte!)
Die Gefangenen schwirrten vor Aufregung, schwatzten – oder waren ganz finster und wortlos, die Aufseher erregt, bärbeißig, wütend.
»Sie, Herr Pagel, sausen Sie mal mit D-Zug-Geschwindigkeit aufs Gut und erzählen Sie Marofke die Scheiße. Gott, wird der platzen, Gott, wird der uns beschimpfen! Und er hat recht gehabt – wir sind alle Idioten gegen ihn, na, mit dem Arbeitskommando ist’s nun vorbei – heute nachmittag geht’s heim nach Meienburg. Sagen Sie dem Marofke, wir kommen erst in gut zwei Stunden. Ich lasse außen rum marschieren, über die offenen Felder. Jetzt mit den Jungen durch den Wald, das riskiere ich nicht, also los!«
Pagel schwang sich auf sein Rad und sauste in den Wald. Während er die Schneisen entlangraste, dachte er: O Gott, was wird Marofke sagen?! Die Jungen hätten’s jetzt verdammt einfach, mich vom Rade zu hauen! Ach, Marofke, hätt ich doch richtig aufgepaßt …
5
In den nächsten drei, vier Stunden surrte und schwirrte es in Neulohe wie in einem Bienenhaus vor dem Ausflug der Königin. Nur, daß hier schon ausgeflogen war – und von keiner Königin!
»Dachte ich es mir doch!« hatte der Oberwachtmeister Marofke nur gerufen und war auf das Büro gestürzt, um dieZuchthausverwaltung anzurufen, gefolgt von dem atemlosen Pagel, dem der Schweiß lief.
»Hätten Sie sich ein bißchen mehr um Ihre Leute gekümmert!« sagte von Studmann ärgerlich.
Aber der kleine, eitle, eingebildete Marofke ließ sich keine Zeit zu einer Richtigstellung, Rechtfertigung. »Heute müssen wir sie kriegen, ehe sie aus dem Wald raus sind, oder wir kriegen sie gar nicht!« hatte er zu Pagel gesagt und telefonierte schon mit der Direktion, nicht einmal zu einem Triumph seiner Besserwisserei ließ er sich Zeit.
Pagel flüsterte mit Studmann, während der Beamte telefonierte – mit Staunen merkte er, daß ihm am wichtigsten die Rechtfertigung des kleinen Marofke vor Studmann erschien. Davon flüsterte er. Der kleine Marofke dachte entgegengesetzt, er hatte nur zwei Ideen: den Rest seines Kommandos rasch und ohne weiteren Abgang nach Meienburg zurückzuführen und die Ausreißer möglichst schnell wieder einzufangen.
Es war deutlich zu hören, daß Marofke eine fürchterliche telefonische Abreibung erhielt, aber er zuckte nicht, er sprach kein Wort von seinem abgelehnten Gesuch. »Was soll jetzt geschehen?« war sein einziges Interesse.
»Das ist doch ein Kerl!« sagte Pagel zu von Studmann.
Aber Studmann murrte nur: »Wenn er ein Kerl wäre, hätte er die Leute nicht erst ausreißen lassen!«
Oberwachtmeister Marofke hing ab.
»Herr von Studmann!« meldete er militärisch und sehr kalt. »Das Arbeitskommando Neulohe wird heute noch abgelöst. Wachtmeister zum Abtransport der Leute kommen sofort aus Meienburg. Ich bitte, zu – sagen wir: zu drei Uhr, zwei Gespanne für die Abfuhr der Sachen bereitzuhalten. Ich selbst fahre jetzt dem Kommando entgegen und bringe es in die Kaserne.«
»Sie persönlich? – Nein, wirklich!« rief Herr von Studmann bitter. »Und was wird aus unsern Kartoffeln?!« Er sah schlimme Folgen voraus, er war bitter.
Aber Marofke beachtete den Stich gar nicht.
»Ich bitte Sie, Herr von Studmann, sich mit
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