Wolf unter Wölfen
kann ein Halstuch, das fehlt, ein halbes Jahr Zuchthaus kosten. Darum, wenn so ausgekochte Jungen türmen, sehen sie, daß ihre Sachen möglichst rasch ins Zuchthaus zurückkommen. Meistens schicken sie sie mit der Post, dann gebe ich Ihnen Bescheid. Aber wenn hier nur ein Stück auftaucht, dann müssenSie aufpassen wie ein Schießhund! Denken Sie nicht, es ist hier von mir was liegengeblieben, von mir bleibt nichts liegen! Und wenn es nur eine graue Gefängnissocke mit rotem Rand ist, dann stinkt was! Wissen Sie überhaupt, wie unsere Hemden aussehen? Und die Halstücher –? Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen …«
Aber er kam nicht mehr dazu, der Herr Oberwachtmeister Marofke, seinen Freund Pagel in die Geheimnisse der Anstaltswäsche einzuführen. Die Dorfstraße hinunter fuhr es »klingling« auf zehn Rädern, und neun Wachtmeister des Strafanstaltsdienstes saßen darauf, alle umgeschnallt. Die Gummiknüppel schaukelten, und die Gesichter waren schweißnaß. Vorne aber fuhr ein dicker, faltiger Mann, in einem dicken, faltigen schwarzen Anzug, sein Bauch lag fast auf der Lenkstange, und er hatte ein weißes, strenges, fettes Gesicht mit buschigen, dunklen Brauen und einem schneeweißen Bart.
Als der Oberwachtmeister diesen drohenden, weißschwarzen Koloß sah, richtete er die Augen starr auf ihn. Er vergaß alles um sich, eingerechnet den jungen Pagel, und murmelte tief bestürzt: »Der Herr Arbeitsinspektor selbst!«
Pagel sah den Dicken schnaufend vom Rade steigen; ein diensteifriger Wachtmeister hielt es dem Inspektor, der sich die Stirn vom Schweiß trocknete, ohne seinen Marofke zu sehen.
»Herr Inspektor!« sagte Marofke flehend und hielt die Hand noch immer am Mützenschild. »Ich melde Arbeitskommando 5, Neulohe, ein Oberwachtmeister, vier Wachtmeister – fünfundvierzig Mann …«
»Wo ist hier das Gutsbüro, Jüngling?« fragte der Elefant fern und fremd. »Wollen Sie mir bitte den Weg zeigen. – Was Sie angeht, Marofke …« Der Inspektor sah nicht Marofke, er sah interessiert die Giebelwand der Kaserne an, auf der das Steinkreuz sich mit einem etwas helleren Rot abhob … »Was Sie angeht, Marofke, so werden Sie wohl noch lernen, daß Sie nichts mehr zu melden haben.« Er sah immer nochdie Wand an, dachte nach. Dann, gleichgültig im Ton, fern, fremd, sehr weiß, sehr faltig, sehr fett: »Sie werden jetzt sofort feststellen, Marofke, ob das Schuhwerk der Gefangenen nach Vorschrift geschmiert und ob es ordnungsgemäß geschnürt ist, also Doppelschleifen, keine Knoten!«
Einer der wartenden Wachtmeister lachte höhnisch auf.
Oberwachtmeister Marofke, der kleine, eitle Dickwanst, sagte weiß, aber sich zusammenreißend: »Zu Befehl, Herr Inspektor!« und entschwand um die Kasernenecke.
Vor dem Inspektor zum Büro her gehend, dachte Pagel mit Erbitterung über diesen kleinen Mann nach, der getreten wurde von allen, obwohl er sich die meiste Mühe gegeben, die schwersten Sorgen gemacht hatte. Er dachte daran, daß ihm selbst kein Mensch einen Vorwurf gemacht, daß ihm eben noch auf dem Büro alle zugelächelt hatten, obwohl er Fehler genug begangen hatte. Er schwor sich, die Augen wirklich aufzumachen und Herrn Marofke, biete sich nur irgendeine Gelegenheit, wieder zu rehabilitieren. Aber er verstand, wie schwer es bei aller Tüchtigkeit einem so lächerlich aussehenden Mann sein mußte, etwas zu gelten. Es genügte bei weitem nicht nur Tüchtigkeit, viel wichtiger war es, tüchtig auszusehen.
»Und das hier also ist das Büro«, sagte der Arbeitsinspektor milde. »Ich danke Ihnen, junger Mann. Wer sind Sie?«
»Ein Freund von Herrn Marofke«, antwortete Pagel grob.
Aber der dicke Mann war nicht zu erschrecken. »Ich meinte mehr Ihren Beruf«, sagte er unverändert freundlich.
»Lehrling!« antwortete Pagel wütend.
»Sieh da! Sieh da!« strahlte der Dicke erfreut. »Da passen Sie freilich zu Marofke. Lehrling! Der muß auch noch viel lernen.«
Er legte die Hand auf die Klinke, nickte Pagel noch einmal zu und verschwand.
Wolfgang Pagel aber hatte wiederum eine Lehre, nämlich die, daß man seinen Ärger nicht an Leuten auslassen soll, die solcher Ärger freut.
7
Eine halbe Stunde später war das Arbeitskommando 5 aus Neulohe abgerückt, und wieder eine Viertelstunde später waren auch die Gendarmen ausgezogen auf ihre Treibjagd durch die Wälder. Von den Fenstern des Büros hatten alle vier: der Geheimrat, der Oberleutnant, der junge Pagel und Frau von Prackwitz, den Ausmarsch angesehen;
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