Wolf unter Wölfen
Ich sage es Ihnen allein, die andern wollen ja nicht auf mich hören. – Was der Landjägermeister gesagt hat, haben Sie verstanden?«
»Ich war ja nur einen Augenblick drin, aber was er gesagt hat, das hat mir eingeleuchtet, Ober«, antwortet Pagel.
»Schön. Aber mir hat’s nicht eingeleuchtet. Und warum nicht? Weil es Sachen sind, die man sich so ausdenkt, wenn man die Leute nicht kennt. Es stimmte, wenn nur der Wendt und der Holdrian von der Tour wären. Die sind doof genug, die machen ein halbes Dutzend schwere Einbrüche und womöglich noch Raubüberfälle, bloß wegen dem bißchen Essen und Kleidern unterwegs. Und wenn sie wirklich nach Berlin kommen, dann haben sie schon für sechs, acht Jahre Zuchthaus ausgefressen, bloß um hinzukommen. Aber sie kommen nicht so weit, denn jeder Einbruch ist eine Spur …«
»Und wie machen sie’s denn?«
»Es sind eben der Matzke und der Liebschner und der Kosegarten dabei. Das sind helle Jungen, die überlegen sich ein bißchen, was sie tun. Die sagen sich immer: ›Es muß sich auch lohnen, was wir anfangen.‹ Die machen keinen Einbruch in ein Bauernhaus für mindestens ein Jahr Zet, um nachher ’ne olle Manchesterjacke von einem Knecht zu finden, die sie sich nie auf den Leib ziehen würden.«
»Aber sie müssen sich doch Zivil besorgen!« sagte Pagel. »In der Tracht kommen sie doch nicht weit!«
»Richtig, Pagel«, sagte Marofke und legte den Finger mit der alten, so eitel aussehenden Überlegenheit an die Nase. »Und da sie schlau sind und sich das selber sagen und da sie vorsichtig sind und Zivil nicht stehlen wollen, so folgt daraus?«
Pagel sah den kleinen Mann an und wußte noch immer nicht, was daraus folgte.
»Es wird ihnen einer Zivil besorgen«, erklärte Marofke milde, »sie haben Helfershelfer hier in Neulohe, einen oder mehrere. Glauben Sie mir, so ausgekochte Jungen wie der Kosegarten und der Liebschner, die reißen nicht aus ohne Vorbereitung. Das ist eine verabredete Sache, und weil ich nicht gemerkt habe, wie sie es verabredet haben (denn sie haben es hier verabredet, durch Briefe oder Zeichen; in Meienburg haben sie es doch nicht verabreden können), weil ich doof gewesen bin, deswegen geschieht’s mir schließlich ganz recht, wenn alle über mich schimpfen …«
»Aber, Herr Oberwachtmeister, wie sollen sie denn hier unter unser aller Augen –? Und wer soll sich denn hier in Neulohe dazu hergegeben haben –?!«
Der Oberwachtmeister bewegte unnachahmlich die Schultern. »Ach, Fähnrich, was wissen Sie, wie schlau ein Mensch ist, der seine Freiheit wiederhaben will –?! Sie denken den lieben langen Tag an hundert verschiedene Dinge, so ein Mann denkt von morgens bis abends und die Hälfte der Nacht nur eines: Wie komme ich raus? Und da wollen Sie was von unsern Augen reden?! Wir sehen gar nichts. Wenn er raus zur Arbeit geht und er dreht sich ’ne Zigarette und sein Tabak ist grade alle und er schmeißt das Tabakpapier vor ihren Augen in den Dreck, Sie gehen mit den Leuten weiter. Aber nach drei Minuten kommt der, der gemeint ist, und er hebt das Papier auf und liest, was darauf gekritzelt ist … Und vielleicht ist noch nicht mal was darauf gekritzelt, es ist bloß so und so gefaltet, und das bedeutet dann das und das …«
»Aber, Herr Oberwachtmeister, ich finde, das klingt so unwahrscheinlich …«
»Unwahrscheinlich ist gar nichts, bei denen nicht«, sagte Marofke und war in seinem Fahrwasser. »Bedenken Sie mal so ’n Zuchthaus, Pagel, Eisen und Glas und Zement, Schlösser und Riegel, und nochmals Schlösser und Riegel, und Ketten gibt es auch noch. Und Mauern und Tore und dreifache Kontrolle und Posten draußen und Posten drinnen – und glauben Sie mir, es gibt kein einziges Zuchthaus in der ganzen Welt, das wirklich vollkommen dicht ist! So ein riesengroßer Apparat und so ein einzelner Mensch, mittendrin in Eisen und Stein! Und doch erfahren wir immer wieder: es ist ein Brief rausgegangen, den hat keiner gesehen, und es ist Geld oder eine Stahlfeile reingekommen, keiner weiß den Weg. Und wenn so was in einem Zuchthaus möglich ist, mit all seinem Apparat, da soll es nicht hier draußen auf unsern ungeschützten Arbeitskommandos möglich sein – vor unsern sehenden Augen?!«
»Aber, Ober«, sagte Pagel, »das mag ja sein, daß sie einen Brief schreiben können. Aber dann muß doch einer hier sein, der mit ihnen unter einer Decke steckt, der den Brief auch lesen will!«
»Und warum soll denn keiner hier sein, Pagel?!«
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