Wolf unter Wölfen
halben Schritt hinter ihm, auch sie mit geschlossenen Augen, immer noch im Schlaf, wie die Mutter sie zuletzt sah? Sieht sie die beiden heimatlos über eine fremde, kalte Erde wandeln – keine gastliche Tür schlägt sich ihnen auf, kein freundliches Wort erreicht sie je –?
Es ist doch erst so kurze Zeit her, daß der Pagel ihr berichtete, daß alles anders war, als sie es befürchtet hatte, daß kein heimlicher Liebhaber mehr zu suchen war, daß die halb närrische, halb verächtliche Fratze des Dieners der Feind gewesen war, der sie so beraubt hatte. »Aber das ist unmöglich! Ich glaube das nie!« hatte sie gerufen.
So wenig Zeit war seitdem verflossen, schon glaubte sie es. Schon wußte sie es, schon sah sie die beiden – und ihr war, als müßten sie immer wortlos beieinander sein, beide stumm aneinandergefesselt von der gleichen höllischen Qual. Sah sie denn die beiden nicht so deutlich, daß sie meinte, er müsse graue Turnschuhe aus Zeug tragen mit geriefelten Gummisohlen, so deutlich, daß sie jeden Nebenweg nach der Spur dieser Sohlen absuchte? Sah sie Violet nicht so deutlich, daß sie wußte, sie trug einen verschossenen, grauen Herrenüberzieher, über einem Kleid, das nicht recht saß, weil er es der Schlafenden angezogen hatte?
Ach, diese Männer – diese Polizei, diese Staatsanwaltschaft, die sich wichtig taten, die immerzu anklingelten, Boten schickten, dies wissen, jene Schuhgröße messen wollten! Sie würden Violet nie finden, sie wußte es genau. Sie war überzeugt, sie allein würde Violet begegnen, irgendwann einmal, es war ganz gleich, wo sie solange wartete, nur draußen mußte es sein – irgendwann, wenn die Stunde kam, würde sie schon auf dem richtigen Fleck stehen.
Hatten diese Leute nicht sogar in Violets Zimmer eine Art Haussuchung abhalten wollen, Fingerabdrücke auf der Fensterbank, Nachsuche nach Briefen?! Sie hatte es nicht zugelassen, sie hatte das Zimmer einfach abgeschlossen. Wozujetzt noch Erhebungen? Es war ja alles sonnenklar! Violets Zimmer gehörte ihr allein: Wenn sie heimkam, völlig erschöpft von ihren Fahrten, zu müde sogar, um zu weinen, wenn sie schnell nach Achim gesehen hatte – dann ging sie in Violets Zimmer. Sie schloß die Tür ab, sie setzte sich neben das Bett, sie schloß die Augen.
Jawohl, zu Anfang warf sie noch einen argwöhnischen Blick auf das Fenster. Aber das Fenster war fest verschlossen, sie war nicht mehr unachtsam. Die Tochter konnte ruhig schlafen, sie lag in ihrem Bett. Allmählich schlief auch die Mutter ein, so in dem Korbstuhl neben dem leeren Bett sitzend, aus Wunsch wurde Traum. Schließlich schlief sie fest, erst am Morgen, wenn sie erwachte, zog sie sich um, wusch sich, rüstete sich für den neuen Tag.
Diese Morgen, bei denen das ganze Zimmer von einem fahlen, trostlosen Grau erfüllt war, wenn das kindische, zänkische Geplärr des Rittmeisters mit seinem Pfleger durch die Stille so peinvoll deutlich zu ihr herüberklang, wenn nach dem toten Nichts des Schlafes in das langsam erwachende Gehirn das Gefühl ihres Verlustes wie ein fressendes Feuer fiel – diese Morgen waren schrecklich. Aber dann stand der Wagen vor der Tür, gleich würde sie losfahren, eigentlich mußte sie sich eilen, vielleicht war das Wiedersehen mit ihrer Tochter schon ganz nahe.
Dieser törichte Pedant Studmann, der keine Ahnung davon hatte, was dieser Wagen für sie bedeutete! Daß er ihre Brücke in die Zukunft war, ihre einzige Hoffnung. Jawohl, er hatte eine höchst dringende, sehr eilige, private Unterredung von ihr verlangt, aber hier stand sie im Walde, es war neun Uhr oder zehn – er begriff nicht, daß man keinen verläßt, der vom Unglück geschlagen ist –! Vielleicht stand sie nur noch darum hier, weil er dort auf sie wartete!
Schließlich steigt sie wieder in den Wagen, sie läßt weiterfahren. Neulohe kommt näher, es ist nun wirklich zehn Uhr geworden. Aber als sie durch das Städtchen Meienburg kommen, läßt sie wieder halten. Sie kommt um vor Hunger!Es gibt hier ein gutes Hotel, den »Prinzen von Preußen«, als junges Mädchen hat sie hier oft mit den Eltern gesessen!
Sie läßt sich die Speisenkarte bringen, sie wählt sehr lange, ehe sie bestellt. Es gibt nicht ganz das Richtige auf der Karte für ihren Hunger, aber schließlich findet sie doch das eine und das andere. Sie nimmt die Weinkarte in die Hand, die Speisenkarte reicht sie dem jungen Herrn Pagel. Sie bestellt Wein, und immer beobachtet sie dabei den jungen Pagel
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