Wolf unter Wölfen
aus den Augenwinkeln. Er sagt, er habe keinen Hunger, er ist fast mürrisch – oh, wie die Menschen Glas für sie geworden sind, sie kann völlig in ihn hineinsehen.
Sie sieht, wie er vor Ungeduld umkommt, sie sieht, er weiß von der Unterredung, die sie Herrn von Studmann versprochen hat. Vielleicht weiß er noch von viel mehr, von Blicken, gewissen Worten, von Hoffnungen … Eine Frau ahnt nie, wie weit Männer mit Geständnissen untereinander gehen, sie bringen das Unglaublichste fertig. Jawohl, der junge Herr Pagel, er kommt vor Ungeduld, vor Mitgefühl mit seinem Freund um, denkt er denn nicht auch einmal an sie –?! Daß sie vielleicht Gründe hat, zu zögern, zu warten –?! Er denkt überhaupt nicht an sie!
Frau von Prackwitz trinkt ein paar Glas Wein, sie ißt auch ein wenig von den bestellten Speisen. Dann läßt sie sich von dem Kellner die winterlich unbenützte Veranda aufschließen. Sie steht da eine Weile – die Tische sind übereinandergestapelt, vor den Fenstern ist Nacht, man sieht den kleinen Garten nicht, nicht die Weiden und Pappeln am Ufer des Flüßchens.
Sie steht eine ganze Weile auf der Veranda, der junge Pagel steht höflich und vielleicht eine Spur verdrossen daneben. Er begreift nicht, warum sie hierhergehen muß. Dann sagt sie halblaut im Hinausgehen: »Hier war ich mit Achim auf unserm ersten Ausflug zu zweien, grade als wir uns verlobt hatten.«
Sie dreht sich noch einmal um, noch einmal betrachtet sie die Veranda. Nein, man sieht ihr nichts an von den fast zwanzig Jahren, die dazwischenliegen; es scheint dieselbeGlasveranda. Eine ganze Ehe ist seitdem vergangen, ein Kind wurde geboren, es ging noch mehr verloren als ein Krieg. – Ade! Erloschene Lebensfeuer, die nichts wieder zum Brennen bringen kann – entschwundene Jugend, verschollenes Lachen – vorbei!
Still geworden sitzt sie wieder an dem Gasttisch des Hotels, nachdenklich dreht sie den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern. An der Haltung des jungen Pagel merkt sie, daß er nicht mehr ungeduldig, nicht mehr mürrisch ist, daß er nicht mehr drängt – er hat verstanden. Es ist gar nicht wahr, daß Jugend unduldsam ist – ein echtes Gefühl versteht echte Jugend sofort.
Etwas später kommt irgendein Herr an ihren Tisch, einer dieser Leute, mit denen sie früher verkehrt haben, irgendein Rittergutsbesitzer aus der Gegend … Er hat wohl einiges gehört, er hat wohl einiges gelesen, er hat wohl auch einiges getrunken. Jetzt kommt er, Abgesandter einer ganzen Runde, Teilnahme heuchelnd, um zu horchen. Er hat sie ja da sitzen sehen, mit einem jungen Burschen Wein trinken, diese beiden sind sogar in der Veranda verschwunden – vor nichts macht die Phantasie dieser Männer halt!
Sie richtet sich auf, weiß vor Erbitterung. Der Herr hat sich an ihren Tisch gesetzt, seinem listigen Fragespiel mit aller Hartnäckigkeit eines Betrunkenen hingegeben, merkt er gar nicht, daß sie schon aufgestanden ist.
Weiß und böse sagt sie in das rote Gesicht: »Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme, Herr von … Den Kranz schicken Sie wohl erst, wenn meine Tochter gestorben ist –?«
Von dem jungen Pagel gefolgt, geht sie aus dem Lokal, ein tödliches Schweigen herrscht. Es dauert lange, bis der völlig verwirrte Kellner sich am Wagen einfindet, um sein Geld in Empfang zu nehmen.
Es ist nach Mitternacht, als sie in Neulohe ankommen. »Sagen Sie bitte Ihrem Freund«, sagt Frau von Prackwitz, als sie ins Haus geht, »daß ich ihn morgen früh sofort anrufe, wenn ich ihn sprechen kann.«
Still sitzt Herr von Studmann im Büro, still hört er sich den Bericht an. »Ich habe immer gedacht, Pagel«, sagt er, ein wenig kümmerlich lächelnd, »daß Zuverlässigkeit eine wünschenswerte Eigenschaft auf dieser Welt sei. Aber seien Sie alles, nur nicht zuverlässig!«
Er geht einen Augenblick hin und her auf dem Büro. Er sieht alt und müde aus. »Ich habe Frau von Prackwitz heute abend noch einen Brief geschrieben«, sagt er schließlich. »Sie findet ihn drüben vor. Nun gut, ich werde bis morgen warten.«
Aber er geht nicht auf sein Zimmer. Er bleibt auf dem Büro. Er wandert auf und ab. Sein Blick, der gegen seinen Willen dann und wann auf das Telefon fällt, verrät, an was er denkt: Vielleicht ruft sie doch noch an?
Pagel legt sich schlafen, er hört den andern auf und ab gehen, immer auf und ab. Er schläft darüber ein.
Es kommt der andere Morgen. Von der Frühstücksstunde an sitzt Herr von Studmann auf dem Büro, er
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