Wolfgang Hohlbein -
bot. Buchenfeld war eine kleine Stadt, nur ein Flecken, der nicht einmal einen eigenen Markt besaß und dem der Bischof von Hildes-heim vermutlich noch nie einen Besuch abgestattet hatte.
Und auch wenn man ihm versichert hatte, daß seine Aufgabe dort nicht viel Zeit in Anspruch nähme, so ahnte er doch, daß es lange dauern würde, ehe er wieder in die stille Abgeschiedenheit seiner Zelle zurückkehren konnte, um das Leben zu führen, für das er eigentlich geschaffen war: sich ganz dem Studium der Bibel und der Schriften der ehrwürdigen Kirchenväter hinzugeben - nebst einigen anderen Dingen, die vom Abt seines Klosters zwar nicht gebilligt, wohl aber stillschweigend akzeptiert worden waren.
Pater Tobias hatte ein Geheimnis. Er war jetzt zweiund-dreißig Jahre alt, und mehr als die Hälfte dieser zweiund-dreißig Jahre hatte er Bücher studiert und kopiert. Aber während der letzten Jahre hatte er die Scholastik für sich entdeckt. Am Anfang hatte er diese Lehre rundheraus abgelehnt, wie viele seiner Brüder und wie auch Pretorius, sein Abt, der keinen Hehl aus seinem Mißtrauen den modernen 11
Wissenschaften gegenüber machte. Dann hatte er sich doch damit beschäftigt, zuerst aus dem bloßen Gedanken heraus, das, was er so vehement bekämpfte, besser kennenzulernen, um mehr und griffigere Argumente dagegen zu haben. Aber er war rasch der Faszination dieser Lehre verfallen, wie so viele vor ihm.
Die Welt der Wissenschaften war so faszinierend, so voller Geheimnisse und Wunder und verblüffender Erkennt-nisse, und für jedes Rätsel, das sie löste, taten sich drei neue auf. Und es war nicht so, daß sie Gott leugnete, wie viele ihrer Gegner vorschnell behaupteten. Ganz im Gegenteil: Manches, das Tobias nie begriffen hatte, wurde ihm verständlicher, und er glaubte lieber an Dinge, die er verstand, statt es sich einfach zu machen und alles Unverständliche mit dem Wirken Gottes oder des Teufels zu erklären. War es nicht ein viel größeres Wunder, zu sehen, welch komplizier-ten Mechanismus der Herr erschaffen hatte, um die Erde und all ihre Pflanzen und Kreaturen im Gleichgewicht zu halten? Er war stolz darauf, ein Mann der Ratio zu sein, ein Geistlicher, der Aristoteles gelesen und verstanden hatte und der seinen Augustinus kannte. Und er nahm sogar den bitteren Wermutstropfen in Kauf, der diese Erkenntnis begleitete
- nämlich, daß allein dieser Stolz ja schon eine Sünde war.
Er führte ein frommes Leben. Er entsagte den fleischlichen Gelüsten - anders als manche seiner Brüder, er frönte nicht der Völlerei, und er sprach dem Wein selten zu; ein kleines Laster konnte er sich erlauben.
Während er so in seine Gedanken versunken war, merkte er gar nicht, wie der Wald sich zu lichten begann. Plötzlich sah er Felder und Wiesen vor sich liegen, und in einiger Entfernung ein schmales Flüßchen, über das eine gemauerte Brücke führte. Dahinter, gegen das Licht der noch tiefstehen-den Sonne nur als Schatten zu erkennen, lag der Ort.
Tobias blieb stehen.
Das mußte Buchenfeld sein. Man hatte ihm gesagt, daß die kleine Stadt gleich hinter dem Wald lag, und eigentlich noch im Wald, denn der Boden, über den er schritt, hatte noch vor einem Menschenalter zum Eichenwald gehört, ehe 12
er gerodet und in Äcker und Wiesen umgewandelt worden war.
Wenn diese Auskunft stimmte, dann hatten die Menschen hier gründliche Arbeit geleistet. So weit er sehen konnte, erhob sich kein Baum, kein Strauch, keine Pflanze mehr, die ihm weiter als bis zur Hüfte reichte. Die meisten Felder waren bereits abgeerntet, aber sein kundiges Auge erkannte, daß die Bauern hier ihr Handwerk verstanden - zur Linken lag ein weitläufiges, bis unmittelbar an den Wald heranrei-chendes Feld mit Dinkel, dahinter, zwischen der Stadt und dem Fluß eine Weide, auf der wohl Kühe oder Schafe gehalten wurden, und auf der anderen Seite des Weges Hopfen, Bohnen und Gerste, das meiste davon bereits abgeerntet. So klein und unbedeutend ihm Pretorius Buchenfeld geschildert hatte, kannten seine Einwohner doch die Vorteile der Dreifelderwirtschaft, die in einem guten Jahr nicht nur eine, sondern gleich zwei Ernten einbringen konnte.
Es wurde rasch wärmer. Der Wald hatte die Kälte der Nacht noch zurückbehalten, aber hier draußen spürte er die Kraft der Sonne, zuerst angenehm, dann lästig und schließ-
lich fast schon unangenehm, denn es wurde sehr heiß unter seinem Gewand. Er bekam Durst. Da er sicherlich noch eine halbe Stunde Fußmarsch
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