Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall
Stab dreimal aufs Podium. Die Gäste merkten auf, im Burghof wurde es still.
»Geschätzte Damen, werte Herren aus nah und fern. Es war die Zeit des großen Wandels. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war Jahre zuvor untergegangen. Der Revolutionsführer Napoleon Bonaparte drückte Europa seinen blutigen Stempel auf, und die Völker ächzten unter dem schmachvollen Joch seiner Regentschaft. Die vernichtende Niederlage der Großen Armee brachte wieder Hoffnung in die geknechteten und gedemütigten Hütten von Spanien bis nach Russland, von Schweden bis nach Italien und Österreich. Der Wunsch nach Befreiung erfasste die starken und mutigen Heeresführer. In der Völkerschlacht bei Leipzig erkämpften sie einen grandiosen Sieg und jagten den Usurpator aus dem Lande. Doch damit nicht genug. Seine verräterischen Verbündeten, allen voran die großherzoglichen Würzburger, leisteten erbitterten Widerstand …«
»Ja, so a Schmarr’n«, tönte einer aus dem Kreis der Schauspieler.
»Ich protestiere gegen diese Geschichtsverfälschung«, schritt der französische Gesandte ein und trat vor Roiber, der genüsslich den Ausführungen seines Zeremonienmeisters folgte. Er ließ sich nicht beeindrucken und gab Zeichen, im Text fortzufahren.
»Allen voran, brüderlich, Schulter an Schulter, zogen von Süden gegen Würzburg die bayerisch-österreichischen Truppen, um der Niedertracht ein Ende zu bereiten …«
»Ihr habt’s doch selber zum Napoleon g’halten«, unterbrach ein weiterer Zwischenruf die Rede.
»Am 24. Oktober 1813 wurde das Feuer auf die letzte Bastion der Verräter eröffnet. Nach nur zwei Tagen hatten die französischen Belagerer die Stadt aufgegeben und sich hier auf die Festung Marienberg zurückgezogen. Im Glauben, dass sie dem stolzen Befreierheer der Bayern trotzen könnten …«
»Haben’s ja auch. Die b’suffnen Batzis haben die Burg ja net e’ mal getroffe«, schallte es aus dem Kreis der Schauspieler.
Gekicher machte sich unter den Zuschauern breit. Roiber wies einen Sicherheitsbeamten an, den Zwischenrufer ausfindig zu machen und abzuführen.
»Der aufopfernde Kampf der Befreier war von Klugheit und Tapferkeit gezeichnet. Das nicht enden wollende Feuer der Geschütze brach den Willen der napoleonischen Besatzer und ihrer gemeinen Helfer …«
»Ich protestiere aufs entschiedenste gegen diese Lügen, die hier verbreitet werden«, setzte sich der französische Gesandte zur Wehr. »Wenn dem nicht unverzüglich Einhalt geboten wird, reise ich auf der Stelle ab.«
Roiber ignorierte den berechtigten Einwurf.
»Die bayerischen Truppen machten sich bereit, den Berg zu erstürmen. Der Kampf um die Festung ging in die entscheidende Phase. Sie hatten die Tore der Burg erstürmt und standen vor dem entscheidenden Kampf, die geschlagene Armee von der Burg und aus der Stadt zu jagen. Davon soll der heutige Abend künden.«
»Das reicht«, entschied der Franzose. »Ich werde umgehend Mon Président über diese Ungeheuerlichkeit unterrichten.«
»Das Spiel möge beginnen«, erklärte Roiber, der aufgestanden war und mit einer ausladenden Handbewegung Pierre, dem Regisseur, Anweisung gab.
»Lieber Freund, ich weiß gar nicht, wieso Sie sich so echauffieren? Es ist doch nur ein Spiel«, versuchte Roiber den französischen Gesandten zu beruhigen.
»Ein Spiel? Das ist Volksverhetzung. Niemals haben Sie unsere Armee geschlagen. Sie haben uns verraten und an die Österreicher und Preußen verkauft. Das vergessen wir Ihnen nie.«
Ein Kanonenschuss beendete die französische Protestnote in Pulverdampf und unter ohrenbetäubendem Lärm. Französische Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten kamen zum Tor hereingerannt und formierten sich unter dem Befehl des Offiziers zu einer Zweierlinie. Auf sein Zeichen feuerten sie ihre Waffen Richtung Scherenbergtor auf die nachrückenden Angreifer.
Im Nu verwandelte sich der Innenhof in einen Kriegsschauplatz. Donnergleich grollten Geschütze, am Himmel zuckten Blitze auf und zeugten von Treffern, die die Burg einstecken musste. Herrenlose Pferde galoppierten herein, Verwundete taumelten umher und fielen zu Boden. Vom Bergfried, einem Gefängnisturm inmitten des Burghofes, seilten sich die Angreifer ab und verwickelten die Verteidiger in blutige Scharmützel.
Unbemerkt schlich sich Julia unterdessen hinter das Podium, auf dem die Staatsgäste amüsiert die Schlacht um die Festung beobachteten. Sie schaute sich die Reihe der Ehrengäste sehr genau an, bis sie
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