Wolfs Brut: Kommissar Kilians zweiter Fall
suchten derweil unter den Trümmern des herabgestürzten Dachstuhls nach Überlebenden. Augenzeugen hatten berichtet, dass sich im Moment des Einsturzes zumindest eine Person unter dem Randersackerer Turm aufgehalten hatte. Die Feuerwehrmänner hatten daher Steine und Balken beiseite geräumt. Gefunden hatten sie einen verkohlten Körper. Allem Anschein nach ein Mann. Über seine Identität konnte zunächst nichts gesagt werden.
Zwei weitere Leichen wurden im Treppenhaus des Randersackerer Turms geborgen. Auch sie waren durch das wütende Feuer bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Lediglich anhand zweier Pistolen, die in ihrer Nähe lagen, konnte auf Polizeibeamte geschlossen werden, da es sich dabei um die Standardwaffe der Polizei handelte.
Ein paar Meter weiter herrschte große Aufregung. Aus dem über einhundert Meter tiefen Brunnenschacht hievten Feuerwehrleute mit einer Winde einen völlig verstörten Mann zu Tage. Er war am ganzen Körper mit Altöl und Daunenfedern
bedeckt und faselte unaufhörlich wirres Zeug über Verfolgung und Ausländer, die ihn in den Brunnen getrieben hatten. Der Mann wies am Rücken und am Gesäß Brandspuren auf, über deren Zustandekommen er nur unzureichende und abenteuerlich klingende Angaben machte. Der Verletzte schlug bei seiner Rettung aus dem Schacht wild um sich, sobald die Sanitäter ihn verarzten wollten, und flüchtete schließlich. Mit Hilfe der Feuerwehreinsatzkräfte gelang es dann doch, den Verwirrten einzufangen und ihn auf einer Bahre festzuschnallen. Unter Protest verschwand er hinter den Türen des Rettungsfahrzeuges und wurde vorsorglich in die neurologische Abteilung der Universitätskliniken transportiert.
Der Nebel über der Stadt und dem Main war in den Morgenstunden dieses 1. November weitgehend verschwunden. In den Straßen herrschte Ruhe und Einkehr. Kaum ein Fahrzeug war zu sehen. Die Bevölkerung lag noch in den Betten und hatte von den dramatischen Vorgängen der vergangenen Nacht auf der Festung Marienberg nichts mitbekommen. Die Turmglocken des Domes und anderer Gotteshäuser luden zum frühmorgendlichen Kirchgang ein. Helle und tiefe Glockenklänge überlagerten sich und waberten den Berg hinauf. An seiner Spitze verblasste eine zarte Rauchfahne am bedeckten Himmel.
Der Mann am Schaltpult in der Kommandozentrale wollte soeben die Satellitenübertragung abbrechen und den Einsatz beenden, als er auf einem der Monitore etwas Seltsames entdeckte. Er fuhr das Bild näher heran und erkannte an einem Mast, der an der der Stadt zugewandten Seite herausragte, zwei Gestalten, die sich mühsam am Gestänge festhielten. Unter ihnen erstreckten sich der Fürstengarten und die Steillage des Berges, sodass sie in den hektischen Stunden seit Ausbruch des Feuers von den Einsatzkräften schlicht übersehen worden sein mussten.
»Ich kann nicht mehr«, stöhnte Heinlein, der der Länge nach auf dem Fahnenmast frierend und zitternd kauerte.
»Halt durch, lange kann es nicht mehr dauern«, ermutigte Kilian ihn.
Er teilte das Schicksal mit Heinlein. Unter ihnen wehte die weiß-blaue Flagge des Freistaates im Wind. Sie triefte vom Löschwasser, das vom Burginnenhof beständig herübergeweht war und Heinlein und Kilian wie nasse Wäschestücke auf der Leine wirken ließ. Einen Vorteil hatte die Sache aber doch. Der Funkenschlag hatte nicht die geringste Chance, den letzten Rettungsanker für die beiden in Brand zu setzen.
»Nie hätt ich daran gedacht, dass dieser Fetzen mir mal das Leben retten würde«, wunderte sich Heinlein. Sein Griff um den schmalen Holm wurde schwächer, und der Unterleib schmerzte ihm zunehmend auf der dünnen Auflage. »Ich frag mich nur, wo die Idioten so lange bleiben. Die müssten uns doch schon längst vermissen.«
»Wahrscheinlich haben sie alle Hände voll damit zu tun, die Löscharbeiten auf der anderen Seite voranzubringen. Lange kann’s auf jeden Fall nicht mehr dauern.«
»Dein Wort in Gottes Gehörgang«, antwortete Heinlein unter Schmerzen und suchte den Auflagepunkt geringfügig zu ändern. Er stemmte sich mit dem Fuß etwas ab, geriet aber gleich darauf in größte Bedrängnis und drohte abzurutschen. Kilian packte ihn an der Schulter und hielt ihn fest.
»Lass den Scheiß. Du reißt uns beide noch ins Unglück«, fluchte er.
»Ein Unglück ist es, wenn ich zukünftig im Knabenchor singen muss. Wenn ich hier noch eine Minute länger hänge, kann ich gleich die Anmeldung ausfüllen«, klagte Heinlein und fand in die alte
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