Wolfsbrut
andere verkommene Existenzen übriggeblieben waren, und diejenigen, die aufgrund ihrer Schwäche auf diese Gegend aufmerksam geworden waren. Und jetzt gehörte Mike O'Donnell zu den zahllosen Leichen, die in den leerstehenden Kellern und dem Geröll der einsamen Gegend verwesten.
Aber in seinem Fall bestand ein kleiner Unterschied. Er hatte ein Zuhause und wurde vermißt. Mikes Tochter war aus dem Häuschen. Sie rief mehrmals im Lighthouse-Zentrum für Blinde an. Nein, sie hatten Mike nicht gesehen, er war nicht zum Dienst erschienen. Inzwischen waren sechs Stunden vergangen, und sie wollte keine Zeit mehr vergeuden. Ihr nächster Anruf galt der Polizei.
Weil vermißte Personen für gewöhnlich von alleine oder gar nicht mehr auftauchen, und weil es so viele gibt, reagiert die Polizei nicht sofort auf so eine Meldung. Jedenfalls nicht, wenn es sich nicht um ein Kind oder eine junge Frau handelt, die keinen Grund hatten, ihr Zuhause zu verlassen, oder, wie im Falle von Mike O'Donnell, um jemanden, der nicht freiwillig auf das bißchen Sicherheit und Behaglichkeit verzichten würde, das er im Leben hatte. Mike O'Donnells Fall war etwas Besonderes, und dadurch wurde ihm mehr Aufmerksamkeit zuteil. Nicht sehr viel mehr, aber immerhin so viel, daß ein Detective auf den Fall angesetzt wurde. Eine Beschreibung von Mike O'Donnell wurde in Umlauf gebracht, was schon nicht mehr der Routine entsprach. Ein Polizist befragte sogar die Tochter lange genug, daß er eine Karte von Mikes wahrscheinlichem Weg von seiner Wohnung zur U-Bahn-Haltestelle zeichnen konnte. Aber weiter gedieh der Fall nicht; es wurde keine Leiche gefunden, die Polizei teilte der Tochter mit, sie solle warten und nicht die Hoffnung verlieren. Eine Woche später sagten sie ihr, sie solle sich keine Hoffnung mehr machen; es würde kein Leichnam gefunden werden. Sein Leichnam lag wahrscheinlich irgendwo verwesend in der Stadt und war von denjenigen, die ihn ermordet hatten, gründlich versteckt worden. Mike O'Donnells Tochter lernte mit der Zeit, die Vorstellung seines Todes zu akzeptieren; sie versuchte, die schreckliche Leere der Ungewißheit mit dem Trost der Sicherheit zu füllen. Sie gab sich größte Mühe, aber sie konnte nur begreifen, daß ihr Vater irgendwie von der Stadt verschluckt worden war.
Während dieser Wochen arbeiteten Neff und Wilson an anderen Fällen. Sie hörten nichts vom Fall O'Donnell; sie ermittelten in einem weiteren Mordfall, waren in der endlosen, nüchternen Routine der Mordkommission gefangen. Die meisten Verbrechen sind nicht weniger gewöhnlich als die Menschen, die sie begehen, und Wilson und Neff bekamen neuerdings nicht mehr die interessanten oder dramatischen Fälle. Es war nicht so, daß sie ins Abseits gedrängt wurden, aber man munkelte, daß der Chief nicht gerade in sie verliebt war. Er wußte, daß es ihnen nicht gefiel, wie er den Mordfall DiFalco/Houlihan abgeschlossen hatte; und er selbst wollte nicht daran erinnert werden, weil es ihm ebensowenig gefiel wie ihnen. Er war ein weitaus gebildeterer Mensch als sie und sorgte sich viel zu sehr um seine eigene mögliche Ernennung zum Commissioner, um bizarren Theorien in einem Fall zu folgen, der für ihn tatsächlich wie ein noch bizarrerer Unfall aussah. Die beiden Polizisten wurden also von wichtigen Fällen ferngehalten und verschwanden in der unermeßlichen Größe der New Yorker Polizei.
Die ersten Worte über Mike O'Donnell hörte Becky Neff vom Gerichtsmediziner. »Ich dachte schon, ihr beide wärt in den Ruhestand gegangen«, sagte er am Telefon. »Bearbeitet ihr einen schweren Fall?«
»Das übliche. Nicht viel los.« Wilson neben ihr zog die Brauen hoch. Das Telefon auf ihrem Schreibtisch hatte nicht oft geläutet; eine längere Unterhaltung wie diese war von Interesse.
»Ich habe hier ein Problem, und ich hätte gern, daß ihr es auch anseht.«
»Der Chief...«
»Dann macht eine Kaffeepause. Kommt einfach hierher. Ich glaube, das könnte genau das sein, worauf ihr gewartet habt.«
»Was hat er denn?« fragte Wilson, sobald sie den Hörer aufgelegt hatte.
»Er hat ein Problem. Er glaubt, es könnte uns interessieren.«
»Der Chief...«
»Er hat gesagt, wir sollen eine Kaffeepause machen und zu ihm kommen. Ich finde, das ist eine gute Idee.«
Sie zogen die Mäntel an; draußen herrschte ein heller, klarer Dezembernachmittag und der frische Wind, der um die Häuser wehte, trug eine bittere Kälte mit sich. In den vergangenen drei Tagen war es
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