Wolfsfalle: Tannenbergs fünfter Fall
stumm.
»Um Gottes willen. Wie ist das passiert?«
»Wolf, das wissen wir nicht. Wir sind von Anwohnern verständigt worden, weil eine Frau ...« Er brach ab, warf eine Hand in Richtung der geöffneten Balkontür, »unten vorm Hochhaus aufgefunden wurde.«
Tannenberg hatte sich bereits torkelnd in Bewegung gesetzt. Krummenacker und sein Kollege hechteten ihm sofort nach und hielten ihn von beiden Seiten her am Arm fest.
»Langsam, langsam, Wolf. Dort kannst du jetzt nicht hin. Da müssen zuerst mal die Kollegen von der Kriminaltechnik ran. Die müssten gleich eintreffen. Wir haben natürlich auch deine Kollegen vom K1 verständigt.«
»Außerdem den Leiter vom Dienst und die Staatsanwaltschaft«, ergänzte der junge Polizeibeamte pflichtbewusst.
Wolfram Tannenberg schleppte sich zu der zwar etwas verschobenen, aber immer noch auf ihren Füßen stehenden, zweiten Ledercouch und ließ sich matt auf die Polster niedersinken. Nach wie vor wurde er von Schwindel und Übelkeit gemartert. Die hämmernden Kopfschmerzen hatten sich in den letzten Sekunden sogar noch verstärkt. Er schloss die Augen, massierte sich die Schläfen.
»Mensch, Tannenberg, was ist denn hier passiert?«, erklang plötzlich die laute, herrische Stimme des Oberstaatsanwaltes, der in Begleitung von Kriminaldirektor Eberle, einer Notärztin und einem Sanitäter das Studenten-Appartement betrat.
Während die Ärztin sogleich zu Tannenberg ging und ihn zu untersuchen begann, bombardierten ihn die beiden Männer mit drängenden Fragen.
»Ich weiß es doch nicht«, jammerte Tannenberg mehrmals hintereinander monoton vor sich hin.
Nach einer Weile legte ihm die junge Ärztin tröstend die Hand auf die Schulter und verkündete mit lauter Stimme: »Meine Herren, das bringt jetzt überhaupt nichts. Ihr Kollege steht unter Schock. Außerdem leidet er unter Amnesie. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis er sich wieder an die Geschehnisse erinnern kann. Er braucht jetzt erst einmal dringend seine Ruhe. Und deshalb nehmen wir ihn gleich mit in die Klinik.«
»Aber ich will nicht ins Krankenhaus. Ich will nach Hause«, versuchte Tannenberg zu protestieren, aber der Sanitäter und die Ärztin hatten ihn bereits unter den Axeln gepackt und vorsichtig auf die Füße gestellt.
»Nein, nein, Sie bleiben erstmal eine Weile unter ärztlicher Beobachtung. Können Sie die paar Meter bis zum Aufzug gehen?«, fragte die Notärztin. Sie sondierte ihren Patienten nochmals mit einem prüfenden Blick, bevor sie ergänzte: »Ich denke, das werden Sie schaffen, nicht wahr?«
Tannenberg nickte stumm und ließ sich widerstandslos aus der Wohnung führen.
Als er von seinen beiden Begleitern gestützt wie ein geistig umnachteter Greis aus dem roten Wohnheim hinaus ins Freie trat, empfing ihn eine kleine Gruppe Schaulustiger, die ihm hinter der Polizeiabsperrung leise murmelnd entgegengafften. Die Presse schien auch bereits Wind von der Sache bekommen zu haben, denn als Tannenberg auf den Zuruf seines Namens hin reflexartig in Richtung der Menge blickte, flammten kurz hintereinander mehrere Blitzlichter auf.
Während er an der sensationslüsternen Meute vorbei zum Notarztwagen geleitet wurde, passierte er die Stelle, an der Leonies zerschmetterter Körper unter einer silberfarbenen Plane lag. Die Studentin war nach ihrem Sturz aus dem 10. Obergeschoss in unmittelbarer Nähe des Eingangsbereichs auf dem betonharten Boden des Zufahrtsweges gelandet, direkt vor einer mit niedrigen Koniferen bepflanzten, dreieckigen Gartenanlage. In Richtung der Büsche verlief eine sprechblasenartige Blutlache, die sich markant von den mausgrauen Pflastersteinen abhob.
Tannenberg versuchte mit abgehackten, stammelnd vorgetragenen Satzbrocken die Notfallmedizinerin davon zu überzeugen, dass er aufgrund seiner Funktion als zuständiger Kriminalbeamter den Leichnam sofort in Augenschein nehmen müsse. Aber die junge Ärztin ließ sich davon nicht weiter beeindrucken, sondern schmetterte sein Begehren resolut mit der Bemerkung ab, dass er im Augenblick gar nichts müsse, außer ihren Anordnungen Folge zu leisten.
Verständlicherweise bekam Tannenberg in dieser gegen seinen Willen im Klinikum verbrachten Nacht kein Auge zu. Zum einen, weil ihn der verzweifelte Versuch, die Erinnerung an die nebulösen Geschehnisse in Leonies Wohnung zu reaktivieren, nicht zur Ruhe kommen ließ. Und zum anderen, weil er keine Örtlichkeit auf der ganzen Welt mehr verabscheute als die Innenräume eines
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