Wolfsfalle: Tannenbergs fünfter Fall
Krankenhauses. Deshalb war es nicht weiter verwunderlich, dass er, sobald er sich ein wenig erholt hatte, bei der erstbesten sich bietenden Gelegenheit aus dem Klinikum flüchtete.
Als Petra Flockerzie kurz nach 7 Uhr 30 das Kommissariat betrat, wunderte sie sich sehr darüber, dass der Leiter des K1 zu diesem Zeitpunkt bereits anwesend war. Aber noch weit mehr erstaunte sie, dass ihr direkter Vorgesetzter an ihrem Schreibtisch hinter ihrem Computer saß – was er sonst nie tat. Sichtlich irritiert legte sie zunächst einmal ihre Tasche und Jacke ab. Dann stellte sie sich, demonstrativ die Arme auf ihre Hüftknochen gestützt, neben Tannenberg. Aber der machte trotzdem keinerlei Anstalten, ihren angestammten Arbeitsplatz freizugeben.
»Chef, warum haben Sie mich denn nicht angerufen und mir gesagt, dass wir eine neue Sekretärin haben. Dann hätte ich schließlich zu Hause bleiben können«, versuchte Petra die ungewohnte Situation humoristisch zu kommentieren.
Tannenberg reagierte weder sprachlich noch körperlich in dem von Petra Flockerzie gewünschten Sinne. Ohne auch nur einen Moment lang zu ihr aufzublicken, klebten seine Augen weiter auf dem mit vielen engen Textzeilen ausgefüllten Flachbildschirm.
»Flocke, komm sei so lieb und mach mir mal einen doppelten Espresso. Ich muss das hier noch schnell fertigmachen.«
»Aber was suchen Sie denn, Chef?«, fragte sie neugierig, während sie sich sogleich auf den Weg zum Espressoautomaten machte.
»Alles über Amnesie, was ich finden kann.«
Die Sekretärin warf die Stirn in Falten, blieb stehen und drehte sich zu Tannenberg um. »Worüber?«
»Amnesie. Das ist ein anderes Wort für ›Gedächtnisverlust‹.«
»Ach so. Ja, ja jetzt entsinne ich mich: Hab ich auch schon mal irgendwo gehört. Aber warum denn, Chef?«
Während Petra Flockerzie die Espressomaschine einschaltete, informierte Tannenberg seine völlig unwissende Sekretärin mit wenigen Sätzen über die dramatischen Geschehnisse der vergangenen Nacht.
»Oh Gott, Chef«, stöhnte Petra Flockerzie mit weinerlicher Stimme auf. »Wie lange kann das denn dauern? Ich meine, wann können Sie sich denn endlich wieder erinnern?«
»Hier steht’s«, entgegnete Tannenberg, zeigte mit seinem rechten Zeigefinger auf die Glasscheibe und las vor: »Die Amnesie bezieht sich meist auf traumatische Ereignisse (z.B. Unfall oder Schock) und bedeutet, dass diese vergangenen traumatischen Erlebnisse trotz intensivster Bemühungen nicht mehr auf die Bewusstseinsebene zu bringen sind. Die Erinnerung an das Erlebte steht dem von Amnesie betroffenen Menschen einfach nicht mehr zur Verfügung. Oft dauert es einige Zeit, bis das Erlebte wieder erinnerungsfähig wird. Manches bleibt jedoch auch für längere Zeit nicht mehr erinnerbar.«
Tannenberg legte eine kurze Pause ein, während er die Tasse mit seinem erbetenen doppelten Espresso entgegennahm. Ohne daran zu schlürfen, stellte er ihn auf den Schreibtisch und setzte seine Fach-Lektüre fort:
»Die Amnesie ist ein unbewusster Schutzmechanismus des menschlichen Gehirns, der deshalb aktiviert wird, weil die Erinnerung an ein traumatisierendes Ereignis die aktuell zur Verfügung stehenden Verarbeitungs- und Bewältigungsmechanismen drastisch überfordern würde. Die Amnesie ist eine ohne jegliche Vorwarnzeichen einsetzende Störung aller Gedächtnisinhalte für einen Zeitraum von maximal 24 Stunden. Es wird über folgende unspezifische Begleitsymptome ...«
»Das heißt ja, dass Sie spätestens nach einem Tag wieder alles wissen«, unterbrach Petra Flockerzie erleichtert. »Dann brauchen Sie ja gar nichts anderes zu tun, als abzuwarten, bis ihre Erinnerungen von ganz alleine wiederkommen.«
»Stimmt.« Tannenberg kratzte sich nachdenklich am Hals, atmete geräuschvoll ein. Dann kniff er seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und sagte kurz darauf mit belegter Stimme: »Nur Flocke, ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich mich überhaupt erinnern will.«
»Aber warum denn, Chef?«
Tannenbergs Gesichtsausdruck sprach Bände. »Weil ich Angst davor habe, dass da vielleicht etwas Fürchterliches ans Tageslicht kommt.«
Petra Flockerzie riss entsetzt die Augen auf, warf dabei die Hand vor den Mund. »Um Gottes willen, Chef, Sie meinen damit doch nicht etwa ...«
»Ich hoffe natürlich, dass es nicht so ist. Aber ich weiß es eben nicht – verdammt nochmal! Weil ich mich nicht erinnern kann.«
Wer weiß, wie lange das Sekretariat des K1 noch von der
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