Wolfsfeder
Strecke – zwei Stücke Rotwild, sechs Sauen und drei Rehe, die auf
drei verschiedene Anhänger verteilt worden waren – auf dem Weg zur
Kühlkammer. Außer den beiden Kreinbrinks hatten sich fünf weitere
Jagdteilnehmer vom Schüsseltreiben abgemeldet, da sie andere wichtige
Verpflichtungen an jenem Abend hatten. Maike Schnur hatte ihre Namen und
Adressen notiert. Die meisten Jäger aber – vor allem die, die von weiter
her kamen – waren direkt zu Cohrs’ Gasthof gefahren. Die aus Eschede
stammenden Waidleute legten noch einen kurzen Zwischenstopp daheim ein, um sich
rasch umzuziehen und Waffen und Hunde wegzubringen.
Die weiße Caravelle aus Celle mit Heiko
Strunz, Jo Kleinschmidt und Ellen Vogelsang war ebenfalls direkt in Richtung
Endeholz aufgebrochen, um die Zeit zu nutzen und schon mit den Befragungen zu
beginnen.
Karl-Heinz Jagau war der Letzte auf dem
Streckenplatz. Nachdenklich kratzte er sich am Hinterkopf und ließ einen
letzten Blick über die Waldwegekreuzung schweifen. Mein Gott, was für ein Tag,
dachte er. Noch dazu nach so einer Nacht! Wenn doch bloß mein Schädel nicht so
fürchterlich brummen würde.
Er griff in die Westentasche und holte
einen Plastikstreifen mit Kopfschmerztabletten hervor. Zwei davon drückte er
sich in die hohle Hand und würgte sie mühsam hinunter, trocken, ohne
nachspülendes Getränk.
»Jetzt brauch ich einen klaren Kopf«,
murmelte er, während er wegen des bitteren Pillengeschmacks sein Gesicht zu
einer Grimasse verzog. »Ich muss unbedingt herauskriegen, was letzte Nacht mit
mir passiert ist. Das Schüsseltreiben kann warten …«
Dann ging er zu seinem Fahrzeug.
DREI
»¿Porque no te alegras?« – Warum freust du dich nicht?
Der Fahrer des Toyota richtete diese Frage
an seine Beifahrerin, ohne sie anzuschauen. Seine volle Konzentration galt der
kurvenreichen und abschüssigen Straße, die sein ganzes fahrerisches Können
verlangte.
Sie befanden sich auf der schmalen
Landstraße zwischen Jánico und Santiago. Als das Auto sich mit quietschenden
Reifen der Stelle näherte, wo mitten auf der Straße ein platt gefahrener
Tierkadaver undefinierbarer Art auf dem Asphalt klebte, erhob sich ein Schwarm
Aasgeier in die Luft, um das Fahrzeug passieren zu lassen. Erst nachdem der
Störenfried vorbeigerast war, setzten die Geier ihre Aufräumarbeit fort.
Allmählich blieben die Berge zurück. Vor
ihnen öffnete sich das weite Panorama des fruchtbaren Cibao-Tals mit dem Fluss
Yaque del Norte. Die ersten Tabakfelder tauchten am Straßenrand auf; in der
Ferne konnte man bereits die Silhouette von Santiago de los Caballeros
ausmachen, der zweitgrößten Stadt der Dominikanischen Republik.
Der Fahrer stellte das Autoradio leiser,
obwohl gerade der neuste Merengue-Hit von Juan Luis Guerra gespielt wurde.
»Kopf hoch, Schwesterchen«, sagte er mit
einem breiten Grienen. »Du machst doch ‘ne tolle Reise. Um die halbe Welt, nach
Europa, nach Alemania. In das Land von BMW und Mercedes Benz. Ich beneide dich darum. Wer bekommt als Dominikaner schon so
‘ne Chance?«
Doch ihr Gesichtsausdruck blieb wie
versteinert. Unbewegt starrte sie nach vorn, schien aber den klapprigen Bus,
der vor ihnen die Straße blockierte und ihren Bruder zum Abbremsen zwang, gar
nicht wahrzunehmen. Wie mit einem Röntgenblick schaute sie durch den Bus
hindurch in die Ferne.
»Tut mir leid«, sagte sie nach einer
Weile, »aber ich hab so eine Ahnung. Eine böse Ahnung.«
* * *
Das Haus der Kreinbrinks lag
östlich der Bundesstraße 191, am Rande von Eschede. Es handelte sich um
ein ehemaliges Bauernhaus, eines dieser liebevoll bis ins Detail wieder
hergerichteten, riesigen niedersächsischen Vierständerhäuser. Ein Querbalken
des Fachwerkhauses trug die Jahreszahl 1798.
Anzeichen von praktizierter
Landwirtschaft, Ackerbau und Viehzucht gab es nicht; Landmaschinen wie
Traktoren, Anhänger und dergleichen waren auf dem gepflegten Hofgelände nicht
zu entdecken. Wo sich einst die Mistkuhle befand, dümpelten nun Seerosen auf
einem kleinen Teich, die ursprünglich mit Heu und Stroh gefüllte Scheune hatte
man zu einem Atelier umfunktioniert, der ehemalige Hühnerstall diente als
Carport für mindestens zwei Fahrzeuge.
Knorrige, steinalte Eichen, aus deren
Kronen die Totholzanteile feinsäuberlich herausgesägt und die Schnittstellen
mit Baumwachs versiegelt worden waren, bildeten ein Hofgehölz, welches das
Fachwerkhaus zur Straße und zum übrigen Dorf hin abschirmte.
Mendelski
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