Wolfsfieber
Ich
drehte mich sofort um. Ich konnte nicht fassen, was ich sah.
Ich wusste, dass Istvan stark war. Aber ich hatte keine Ah-
nung, wie stark, bis ich sah, dass er mit den Händen den
hinteren Teil des Wagens hochhob, damit ich nicht davon-
fahren konnte. Die Reifen drehten sich in der Luft. Sein
angestrengter Unterkiefer spiegelte sich im Rückspiegel. Er
stöhnte, weniger wegen des Kraftaufwandes als durch den
Schmerz der Wandlung.
„Lass mich gehen!“, flehte ich ihn flüsternd an und wuss-
te, dass er es hören konnte. Aber er ließ es nicht zu. Erst
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als die Verwandlung übermächtig wurde, sauste der Wagen
mit einem Ruck nach unten und Istvan fiel auf die Straße.
Instinktiv griff ich nach dem Türriegel, konnte mich aber im
letzten Moment noch zusammennehmen. Ich durfte ihm
jetzt auf keinem Fall zu Hilfe kommen, dann wäre alles um-
sonst. Eine einzige Berührung und meine Entschlossenheit
würde sich wie Rauch auflösen.
Ich sah, dass er schon fast ein Wolf war, als ich meine
eigenen blauen Augen im Rückspiegel erblickte, abgebildet
zusammen mit seinem Wolfskörper.
„Monster“, stieß ich jetzt angewidert hervor und mein-
te damit mich und nicht den Werwolf, der sich hinter mir
verwandelte, mitten auf der Straße im Dorf, weil ich es so
arrangiert hatte.
Ich war ein Monster. Nur Monster können solche un-
fassbaren Dinge tun. Istvan hasste immer die falschen Men-
schen wie sich selbst. Er hätte mich hassen müssen. Mich,
die ihn nie verdient hatte und jetzt dabei war, feige davon-
zulaufen. Der Fluchtinstinkt, als ruchloser Verbündeter an
meiner Seite, ließ mich jetzt den Wagen starten und über die
Kirchenstraße fahren, während der Wolf in meinem Rücken
immer kleiner wurde.
In Tränen aufgelöst brauste ich mit rücksichtslosem Tem-
po die Hauptstraße hinunter, vorbei am Ortsschild, vorbei an
der lang gezogenen Straße, auf der ich ihn damals fand, auf
der unsere Reise begonnen hatte. Dieselbe Straße, die mich
jetzt von ihm wegbrachte, in irgendein Wiener Hotel, in dem
ich meine Wunden lecken würde und selbst daran arbeiten
konnte, Selbsthass zu kultivieren und mich in Verachtung
einzuhüllen. Als ich dabei war, die letzten Häuser von Roh-
nitz hinter mir zu lassen, waren meine Augen so mit Tränen
gefüllt, dass ich kaum noch die Straße sah. Wenn ich Glück
hatte, baute ich einen Unfall oder fuhr in den Graben. Aber
irgendetwas sagte mir, dass ich nicht so glimpflich davon-
kommen sollte, dass es noch lange nicht hier zu Ende ging,
auch wenn es sich jetzt vielleicht so anfühlte.
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Die Monster dieser Welt, die sich davonstehlen und
Schmerz und Zerstörung zurücklassen. Dazu zählte ich jetzt
auch. Nur dass ich noch schlimmer war. Ich floh vor etwas,
dass ich eigentlich festhalten wollte. Wozu machte mich
das?
Die dunklen, verschlungenen Straßen des Geschrieben-
steins konnten mir auch diesmal nichts anhaben. Ich war
schon auf dem Gipfel und glaubte, das Schlimmste hinter
mir zu haben, als ich den rennenden Wolf neben mir ent-
deckte, der versuchte, mit dem rasenden Auto mitzuhalten.
Seine irisierenden, grünen Augen warfen mir immer einen
kurzen Blick zu, der mir jedes Mal den Atem raubte und die
Heulkrämpfe verschlimmerte. Im Grunde wimmerte ich nur
noch. Mein Blick heftete sich ganz auf das sandfarben ge-
fleckte Tier neben mir, in dessen Haut sich der Mann, den
ich liebte, den ich jetzt verließ, versteckte. Der Wolf heulte
laut und schmerzzerreißend. Als würde er noch immer sagen:
„Kehr um. Geh nicht!“, nur jetzt in einer anderen Sprache.
Der finstere Wald war mir noch nie so düster und leer
vorgekommen. Das laute Jaulen des Wolfes zog meine ganze
Aufmerksamkeit auf sich, sodass ich gar nicht mehr auf die
nasse Fahrbahn sah. Erst als ich den Tränenfilm wegblin-
zeln musste, sah ich, ganz kurz, den Ast auf der Straße und
trat auf die Bremse. Der Wagen schlingerte. Er vollführte
beinahe eine 180-Grad-Drehung, ehe er zum Stehen kam.
Als der Wolf meinen Beinahe-Unfall sah, erstarrte er. Seine
Augen leuchteten mich erschrocken an. Das Grün war ein
Brennen. Angst um mich erkannte ich jetzt darin. Mir war
der Atem verloren gegangen. Erst als ich ausstieg und auf
die Fahrbahn fiel, beinahe zusammenbrach, der Regen mich
fast zu Boden drückte, da wurde dem Wolf, wurde Istvan
klar, dass er mich gehen lassen musste. Er starrte mich lange
an. Ich versuchte, seinen Blick zu halten, musste mich
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