Wolfsglut - Handeland, L: Wolfsglut
den fast vollen Mülleimer. Ich hielt das winzige Stück Plastik zwischen zwei Fingern und starrte in die funkelnden blauen Augen.
Die Vorstellung, dass etwas so Kleines, so Schäbiges genug Macht besitzen könnte, um mich in einen Wolf der Extraklasse zu verwandeln, war einfach lachhaft. Trotzdem war mir in diesem Moment, in dieser verdreckten Damentoilette mitten im Niemandsland überhaupt nicht nach Lachen zumute.
Ich schob den Talisman in die Tasche meiner neuen Hose, als mir plötzlich einfiel, dass der kleine Wolf nicht das Einzige gewesen war, das sich in meinem Rock befunden hatte.
Doch sowohl die Liste mit Namen, die Nic mir gegeben hatte, als auch seine 38er waren weg. Ich musste sie irgendwo unterwegs verloren haben. Die Liste war mir egal, aber die Waffe hätte sich eventuell hier und da für einen Bluff benutzen lassen können.
Da ich nicht umkehren konnte, um sie zu suchen, stieg ich in meine Turnschuhe und schnippte eine letzte Flocke getrockneten Blutes aus meinem Haar. Meine Nägel sahen aus, als hätte ich ein paar Leichen im Wald verscharrt, was der Wahrheit nahe genug kam, um mir Sorgen zu bereiten. Ich konnte nur hoffen, dass die Menschen, denen wir zwischen hier und Wisconsin begegneten, es mit der Körperpflege nicht ganz so genau nahmen.
Als ich aus der Toilette kam, entdeckte ich den Tankwart hinter der Kasse. Ich sah mich in dem Raum um, der vom Boden bis zur Decke mit Chips, Getränken, Süßigkeiten und Softporno-Magazinen vollgestopft war. Aber weit und breit kein Nic.
„Ich habe Ihrem Freund einen Wagen verkauft.“
Dem Grinsen des Mannes nach zu urteilen, musste es ein guter Deal gewesen sein. Natürlich konnten wir nicht gerade wählerisch sein. Wir mussten hier abhauen, und auf einem Quad war das unmöglich.
„Er ist über die Straße, um ihn zu holen.“
Obwohl ich es gar nicht mochte, Nic auch nur für eine Minute aus den Augen zu lassen, verschaffte mir seine Abwesenheit die Gelegenheit, etwas zu tun, das ich schon zuvor hätte tun sollen.
„Haben Sie ein Telefon?“
Er zeigte auf die Wand hinter mir.
Ich wog die Risiken ab. Ich bezweifelte, dass irgendjemand daran gedacht haben könnte, dieses spezielle Telefon anzuzapfen, und Edward ließ seine eigenen Leitungen regelmäßig auf Wanzen überprüfen. Sollte wirklich jemand den Anruf zurückverfolgen, wären Nic und ich längst über alle Berge.
Ich tippte die Nummer ein, während der Tankwart sich daranmachte, einen Kartoffelchipständer aufzufüllen. Edward nahm beim zweiten Läuten ab. „Elise?“
Wie konnte er das wissen? Die Anruferkennung hätte „Joe’s Tankstelle“ anzeigen sollen, nicht „Elise Hanover“. Manchmal war der alte Mann unheimlicher als alles, was er jagte.
Meine Antwor t – „Ja, Sir! “ – wurde mit einer üblen Salve deutscher Flüche belohnt.
„Ich weiß ja, dass Sie sich nicht oft freuen, von mir zu hören“, murmelte ich, „aber war das wirklich nötig?“
„Ich rufe schon seit Ewigkeiten alle halbe Stunde im Hauptquartier an, aber die Leitung ist tot. Wenn Sie irgendeine technische Störung haben, ist es Ihre Pflicht, mich zu informieren.“
„Es ist ein bisschen mehr als eine technische Störung.“
„Spezifizieren Sie das.“
Ich kannte Edward schon mein ganzes Leben lang. Er hatte mich praktisch großgezogen; Kindermädchen zu bezahlen, mich auf die besten Schulen zu verfrachten und anschließend als seine rechte Hand zu rekrutieren war allerdings kaum das Gleiche, wie jemanden großziehen. Zwischen uns gab es wenig Wärme, ganz gleich, wie sehr ich mir wünschte, es wäre anders.
„Spezifiziert heißt da s … “ Ich blickte mich um. Es war niemandinderTankstelleaußermirunddemTankwart,dermehrdaraninteressiertschien,dieHustler-Magazinegeradezurücken, als mich zu belauschen. Trotzdem senkte ich die Stimme. „Da, wo das Hauptquartier sein sollte, klafft jetzt ein Krater.“
Auf meine Worte folgte Schweigen.
„Sir?“
„Sabotage?“
Ich dachte an den Schemen, den Schuss, die Silberkugel. „Definitiv.“
„Der Wachmann?“
„Tot.“
„Verdächtige?“
„Könnten überlebt haben.“ Edwards Grunzen sagte mir, dass er die tiefere Bedeutung verstanden hatte. „Mit Ausnahme von Billy.“
„Und Billy ist nicht mehr am Leben, wei l … ?“
„Er mich sauer gemacht hat.“
Obwohl sein Seufzen Hunderte von Kilometern zurücklegte, bevor es mich erreichte, verlor es nichts von dem darin mitschwingenden Tadel.
„Ihr Temperament ist wie immer ein
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