Wolfsherz
»Allerhöchstens die Geschichte, die Sie zu erzählen haben. Also?«
»Sie ist nicht so dramatisch, wie Sie zu glauben scheinen.« Danuta stand auf, trat an den Schrank und kam mit einem großformatigen, zerlesenen Buch zurück. Der in abblätternden Goldbuchstaben eingeprägte Titel war in kroatisch oder irgendeiner anderen Sprache abgefaßt, die Stefan nicht entziffern konnte. Danuta legte das Buch vor sich auf den Tisch, schlug es aber nicht auf.
»Das Land, aus dem ich stamme, ist... anders als das hier, Herr Mewes«, begann sie. »Ich bin nicht ganz sicher, ob Ihrer Frau und Ihnen das bewußt war, als Sie dort hingefahren sind.«
»Man hat es uns beigebracht«, antwortete Stefan. »Auf eine ziemlich drastische Weise.«
»Sie verstehen mich nicht«, sagte Danuta. »Ich rede nicht vom Krieg, oder von dem, was seit ein paar Jahren dort geschieht. Ich rede von den Menschen, die dort leben. Von der Art,
wie
sie leben.«
Stefan schwieg dazu. Er war nicht ganz sicher, ob er verstand, worauf Danuta hinauswollte. Aber er hatte kein besonders gutes Gefühl. Irgend etwas sagte ihm, daß Danuta nicht über die andere Mentalität ihrer Landsleute sprach, oder die eine oder andere schlechte Angewohnheit, wie zum Beispiel die, eine Treibjagd auf harmlose Touristen zu veranstalten, oder international gesuchten Terroristen Unterschlupf zu gewähren.
»Mein Land ist vielleicht nicht sehr weit von Ihrem entfernt«, fuhr Danuta nach einer bedeutungsschweren Pause fort, »und doch ist es völlig anders, als Sie sich auch nur vorstellen können. Selbst ich... kann es nicht völlig nachempfinden. Vielleicht habe ich schon zu lange hier bei Ihnen gelebt.« Sie zuckte mit den Schultern, aber es war eine Geste ohne Bedauern. »Die Menschen dort hatten schon immer eine besondere Affinität zum Düsteren und Mythischen. Sie wissen um Dinge, die die meisten anderen schon lange vergessen haben. Es ist kein Zufall, daß so viele unheimliche Geschichten und Legenden von dort kommen.«
»Es gibt Menschen, die behaupten, daß das finstere Mittelalter auf dem Balkan niemals ganz aufgehört hat«, sagte Stefan.
»Diese Geschichten sind viel älter«, antwortete Danuta mit einem Ernst, der ihm im ersten Moment vollkommen unangemessen schien. Aber dann begriff er, daß er das falsche Wort gewählt hatte. Der Ernst in ihrer Stimme strafte alles, was sie vor ein paar Minuten selbst gesagt hatte, Lügen. Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Ich rede nicht über... über Dracula, Transsylvanien und all den anderen Unsinn. Das sind nur Geschichten.«
»Und die vom Wolfsherz nicht.«
»Sie sind anders«, behauptete Danuta. »Vielleicht hat man all diese Geschichten über Vampire und Blutsauger und verwunschene Schlösser nur aus dem einen Grund erfunden, um von den anderen abzulenken. Sie verstehen – man redet laut über die eine Sache, um die andere zu übertönen. Hier, sehen Sie.«
Ohne hinzusehen, streckte sie die linke Hand aus, schlug das Buch auf und drehte es in derselben Bewegung auf der Tischplatte herum. Die Schrift auf den vergilbten Seiten gewann dadurch keinen Deut an Lesbarkeit, aber es war auch nicht nötig, die Worte zu entziffern.
Was Danuta ihm zeigte, war eine offensichtlich sehr alte Reproduktion einer Karte, die das Gebiet zeigte, das auch heute gemeinhin noch als Jugoslawien bezeichnet wurde, obwohl es dieses künstliche Staatsgebilde schon seit Jahren nicht mehr gab. Trotz der altertümlichen Schrift und der fremden Sprache konnte Stefan den einen oder anderen Städtenamen identifizieren.
»Und?« fragte er.
»Suchen Sie das Wolfsherz«, sagte Danuta.
Stefan sah nur flüchtig hin. »Sie wissen, daß ich das nicht kann. Außerdem ist diese Karte mindestens hundert Jahre alt.«
»Sie würden es auch auf einer aktuellen Karte nicht finden«, antwortete Danuta. »So wenig wie Dutzende anderer Orte.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« Stefan legte den Kopf schräg und sah abwechselnd Danuta und ihren Bruder und die Karte an. Er versuchte zu lachen, aber es blieb bei dem Versuch. »Daß dieses Tal in Wirklichkeit gar nicht existiert und Rebecca und ich in Wahrheit in... in einer anderen Dimension waren? So einer Art verwunschenem Land, das man nur alle sieben Jahre betreten kann, um Mitternacht und bei Vollmond?«
Danuta blieb ernst. »Natürlich existiert dieses Tal«, sagte sie ungerührt. »Sie waren dort, und Ihre Frau war dort und Eva auch. Was ich damit sagen will, ist, daß niemand über diese Orte spricht.
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