Wolfsherz
war eine Phase sehr tiefer, aber normaler Trauer gefolgt, aber er war irgendwie damit fertiggeworden. Becci nicht.
Der normale Mechanismus, der dem Schock Schmerz und dem Schmerz Betäubung und dann ein ganz allmähliches Akzeptieren des Unausweichlichen folgen ließ, funktionierte bei ihr nicht. Sie hatte es scheinbar gefaßt aufgenommen. Keine hysterischen Anfälle, kein Schreien, kein Hadern mit dem Schicksal. Für eine Weile hatte er geglaubt, daß sie wie er damit fertiggeworden wäre, aber das war,
bevor
er die ganze Wahrheit kannte. Sie hatte nicht nur ihre ungeborene Tochter verloren. Sie konnte nie wieder Kinder bekommen. Der betrunkene Cabrio-Fahrer hatte ihnen mehr genommen als nur ein Kind. Er selbst war bei dem Unfall ums Leben gekommen, was Stefan als einen Akt höherer Gerechtigkeit empfand, der ihn zwar nicht mit Befriedigung erfüllte, aber auch nicht die Spur von Mitleid in ihm wachrief. Aber auch in Becci war damals etwas gestorben. Sie sprachen niemals darüber. Stefan hatte es ein einziges Mal versucht und dann nie wieder. Aber die Wunde war da, und sie war tief und schmerzhaft und würde vielleicht niemals verheilen. Es waren Momente wie diese, in denen Stefan immer wieder begriff, daß sie bis heute noch nicht einmal aufgehört hatte zu bluten.
Das Haus hockte wie ein aus Stein gemauertes Krähennest auf dem Grat; ein anderthalbgeschossiges, strohgedecktes Versatzstück aus einem Hammer-Film, der irgendwo in Transsylvanien spielte. Zweifellos stand hinter einem der unbeleuchteten Fenster im Erdgeschoß eine Gestalt in einem schwarzen Cape, die den nächtlichen Besuchern aus roten Augen entgegensah und alle Spiegel aus dem Haus entfernt hatte, und ebenso zweifellos gab es unter dem Haus einen düsteren Gewölbekeller voller Särge, in die sich seine Bewohner vor dem ersten Sonnenstrahl zurückziehen würden.
Stefan lächelte, während er hinter Wissler und vor Rebecca aus dem Wagen stieg. Es war ein alberner Gedanke, aber obwohl er sich nahtlos an die Bilder anschloß, die ihn vorhin so gequält hatten, half er ihm jetzt, mit seiner Nervosität fertigzuwerden.
»Was ist so komisch?« fragte Wissler.
»Nichts«, antwortete Stefan. »Ich finde nur dieses Haus... sonderbar.«
»Barkow ist ein sonderbarer Mann«, bestätigte Wissler. »Er liebt dramatische Auftritte und pittoreske Kulissen.«
Stefan runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Für seinen Geschmack war dieses Haus nicht pittoresk, sondern einfach selbstmörderisch. Es mußte vor sehr langer Zeit einmal hier auf dem Grat errichtet worden sein, um das Tal zu beobachten. Auch wenn jetzt zur Linken nichts als undurchdringliche Schwärze lastete, mußte man tagsüber einen guten Ausblick über das Wolfsherz haben. Aber vor einer nicht annähernd so langen Zeit war ein Teil des steinernen Grates weggebrochen, so daß ein gutes Fünftel des Hauses über die neugeformte Klippe hinausragte. Wahrscheinlich war der Abgrund nur wenige Meter tief, denn aus der Dunkelheit wuchs ein ganzes Gewirr schrägstehender, ineinander verkeilter Stützbalken und Streben. Trotzdem wurde Stefan schon bei dem bloßen Gedanken mulmig, dieses Haus zu betreten.
Wissler sog scharf die Luft ein, um seine und Rebeccas Aufmerksamkeit zu erregen. Stefan war es ganz recht, nicht mehr an die abenteuerliche Statik dieses Hauses denken zu müssen, aber Becci reagierte nicht sofort. Sie sah zwar in Wisslers Richtung, aber ihr Blick ging ins Leere, starr auf einen Punkt gerichtet, den nur sie erkennen und den Stefan allenfalls erahnen konnte.
Wissler räusperte sich, und diesmal sah Rebecca auf. »Alles in Ordnung?« fragte er.
Becci nickte mit einer Sekunde Verspätung. »Ja. Natürlich«, sagte sie; auf eine Art, die ganz klar machte, daß absolut nichts in Ordnung war.
Falls Wissler es bemerkte, zog er es vor, diese Tatsache zu ignorieren. »Gut«, sagte er. Er wirkte sehr nervös. »Wir gehen jetzt hinein. Nur wir drei. Sie lassen mich reden, ist das klar? Ganz egal, was passiert, Sie überlassen mir das Reden, bis ich Ihnen etwas anderes sage. Und wenn Sie Barkow treffen, vergessen Sie bitte keine Sekunde, mit wem sie es zu tun haben. Der Kerl ist vielleicht so verrückt wie eine Scheißhausratte, aber er ist auch so etwas wie ein Gott, zumindest für seine Männer und in dieser Gegend hier.«
Irgend etwas in Stefan war irritiert. Da war etwas in Wisslers Worten, das... nicht paßte. Aber er wußte nicht, was.
»Er war mit diesem Interview einverstanden«,
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