Wolfsherz
einem Chaos aus düsteren Farben, das immer nachdrücklicher sein Recht verlangte.
»Das ist ein Kind!« sagte Rebecca aufgeregt. »Großer Gott, irgendwo dort draußen weint ein Kind! Wir müssen sofort anhalten!«
»Das ist kein Kind«, antwortete Wissler.
»Aber selbstverständlich«, widersprach Becci erregt. »Hören Sie doch! Es ist ganz deutlich! Wir müssen anhalten!« Sie erhob sich halb aus dem Sitz und wollte nach der Schulter des Fahrers greifen, aber Wissler fiel ihr in den Arm und stieß sie grob zurück. Stefan protestierte empört, aber der Österreicher ignorierte ihn einfach.
»Setzen!« sagte er scharf, nur einen Deut davon entfernt, wirklich zu schreien. »Sind Sie wahnsinnig? Diese Kerle hier warten nur auf einen Vorwand, über uns herzufallen, begreifen Sie das immer noch nicht?«
»Aber das Kind -«
»Da ist kein Kind!« unterbrach sie Wissler wütend. Auch Stefan war mittlerweile felsenfest davon überzeugt, das klagende Weinen eines Säuglings zu hören, aber er hatte nicht den Mut, Wissler zu widersprechen. »Was Sie hören, sind die Wölfe.«
»Blödsinn!« widersprach Rebecca, aber Wissler machte erneut eine Handbewegung, die ihr abrupt das Wort abschnitt. Es hätte auch der Ansatz dazu sein können, sie zu schlagen.
»Es sind Wölfe«, fuhr er fort, in etwas leiserem, nunmehr aber sehr bestimmten Ton. »Glauben Sie mir. Ich kenne diese Gegend, und ich weiß, wie sich Wölfe anhören. Sie heulen den Mond an, das ist alles.«
Rebecca schwieg. Zwei, drei Sekunden lang starrte sie Wissler an, dann drehte sie sich zu Stefan um, und ihr Blick wurde flehend. Irgend etwas erschien darin, das Stefans Herz wie eine eisige Faust zusammendrückte. Wissler wußte nicht, wie sich Wölfe anhörten, aber sie und er wußten, wie ein weinendes Kind klang. Und er hatte verdammt noch mal die Pflicht, ihr beizustehen. Schließlich war sie seine Frau. Er raffte all seinen Mut zusammen, legte sich ein paar schlagkräftige Argumente zurecht und drehte sich ganz zu Wissler herum.
Als er ihm in die Augen sah, brachte er kein Wort heraus.
»Es sind Wölfe«, sagte Wissler noch einmal. Und sein Blick fügte hinzu: Und selbst wenn nicht, werden
wir nicht
anhalten.
Aber vielleicht hatte er ja recht, dachte Stefan. Er kannte sich hier hundertmal besser aus als sie. Er wußte, wie Wölfe klangen. Dort unten konnte kein Kind sein. Das wenige, was sie von der Böschung erkennen konnten, war so steil, daß sie eine Bergsteigerausrüstung gebraucht hätten, um hinunterzukommen. Sie konnten dort nicht hinunter.
»Bitte beruhigen Sie sich«, sagte Wissler in versöhnlichem Ton. Er warf dem Mann hinter dem Steuer einen raschen, sehr nervösen Blick zu, dann lächelte er und wandte sich wieder an Becci. »Ich kenne das. Ich bin selbst schon darauf reingefallen, glauben Sie mir. Dort unten gibt es keine Menschen. Seit Jahrhunderten hat niemand dieses Tal betreten. Es gibt keinen Weg hinein und auch keinen hinaus. Dort unten gibt es nur Wald - und Wölfe.«
Rebecca schwieg. Ihr Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Stefan wollte etwas sagen, aber er brachte immer noch keinen Laut hervor.
Wie auch? Er konnte nichts sagen, was es nicht schlimmer machen würde. Die alte Narbe war wieder aufgebrochen, und die Wunde darunter war so tief und blutete so heftig wie eh und je.
Sie hatten ein Kind gehabt, vor vier Jahren. Es war noch nicht geboren, sondern ein erst sieben Monate altes, schlummerndes Leben, das noch wohlbehütet im Leib seiner Mutter auf das Erwachen wartete. Sie beide hatten dieses Kind geliebt,mehr, viel mehr, als ihnen beiden auch nur bewußt gewesen war. Becci war in diesen Monaten aufgeblüht, sowohl seelisch als auch körperlich. Sie war niemals so fröhlich und lebenslustig gewesen wie in dieser Zeit; und niemals so schön. Und sie beide zusammen waren niemals so glücklich gewesen.
Es endete in einer einzigen Minute. Ein betrunkener Autofahrer, eine Reaktion, die den Bruchteil einer Sekunde zu spät erfolgte, vielleicht seine Schuld, vielleicht die des anderen... ein gnädiges Schicksal hatte es arrangiert, daß sich Stefan nicht mehr an Einzelheiten erinnerte. Das Bersten von Glas, der sonderbar dumpfe, knisternde Laut von auseinanderreißendem Metall, der so ganz anders war, als man ihn aus Filmen und Action-Streifen kannte, das war alles. Ihm war klar, daß er sich nicht erinnern
wollte,
und er hatte es auch niemals wirklich versucht. Und er hatte sogar ein zweites Mal Glück gehabt: Dem Schock
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