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Wolfsherz

Wolfsherz

Titel: Wolfsherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ihnen zu greifen versuchten. Sie befanden sich auf dem direkten Weg zu Draculas Schloß. Er wäre kaum noch erstaunt gewesen, wäre plötzlich eine von sechs schwarzen Pferden gezogene Kutsche vor ihnen aufgetaucht, die mit funkenschlagenden Hufen ihren Weg kreuzten.
    »Was hast du?«
    Rebeccas Stimme drang wie durch Watte an sein Bewußtsein, und Stefan begriff im letzten Moment, daß er tatsächlich auf dem besten Weg gewesen war, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Die Erkenntnis hätte ihn erschrecken müssen, denn er war eigentlich durch und durch Realist, aber er erinnerte sich wieder an Wisslers Worte, nach denen dies das Land der Legenden und Mythen war. Vielleicht war daran mehr gewesen, als er vorhin schon begriffen hatte. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Nichts. Warum?«
    »Du siehst... erschrocken aus.«
    Offenbar sah man ihm seine Gedanken deutlicher an, als ihm lieb war. Das war nicht gut. Wenn sie Barkow gegenüberstanden, war ein perfektes Pokerface vielleicht ihre einzige Lebensversicherung. »Mir ist nur kalt«, antwortete er. »Und wie fühlst du dich? Was macht dein Fieber?« Angriff war in diesem Fall vielleicht die beste Verteidigung.
    »Es ist fast weg«, log Rebecca. Nicht besonders überzeugend. Trotz des praktisch nicht vorhandenen Lichtes konnte er sehen, wie erbärmlich sie aussah. Er hätte nur die Hand auf ihre Stirn legen müssen, um ihrer Behauptung jede Glaubwürdigkeit zu nehmen, aber das wollte er nicht. Außerdem hätte es bedeutet, den Handschuh auszuziehen; eine Vorstellung, die angesichts der herrschenden Temperaturen nicht besonders verlockend war.
    Nachdem er Rebecca hinlänglich angestarrt hatte, fühlte sie sich zu einem entschuldigenden Lächeln und einem begleitenden Achselzucken genötigt und sagte: »Ein bißchen Kopfschmerzen, das ist alles. Die Aufregung.«
    Wissler drehte sich auf dem Beifahrersitz herum und sagte:
    »Möchten Sie eine Kopfschmerztablette? Ich habe welche dabei.«
    »Nicht nötig«, antwortete Rebecca. »Ich sagte doch, ich
habe
bereits Kopfschmerzen. Warum sollte ich eine Tablette nehmen?«
    Wissler blinzelte und hatte offenbar Schwierigkeiten, den -zugegeben - lahmen Kalauer zu verstehen. Schließlich zuckte er mit den Schultern und drehte sich wieder herum. Becci lächelte matt, aber vielleicht hätte sie es besser nicht getan. Ihre Blässe, die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihre spröden, aufgesprungenen Lippen machten eine Grimasse daraus, und Stefans Phantasie schoß einen Giftpfeil in seine Gedanken: Sie waren nicht nur auf dem Weg zu Draculas Schloß, eines seiner Opfer saß bereits neben ihm.
    »Wie weit ist es noch?« fragte er.
    Wissler zuckte die Achseln, antwortete aber trotzdem. »Nicht mehr weit. Zehn Minuten. Vielleicht eine Viertelstunde.«
    Stefan war nicht sicher - selbst seine Erinnerungen begannen ihm in dieser surrealistischen Welt aus Schwärze und fallendem Schnee zu entgleiten -, aber er hätte schwören können, daß Wissler auf dieselbe Frage vor einer Viertelstunde bereits die gleiche Antwort gegeben hatte. Aber er sparte es sich, zu widersprechen. Reden war mühsam. Außerdem tat die kalte Luft im Hals weh, wenn er den Mund öffnete und atmete.
    Für eine geraume Weile - für Stefans subjektives Zeitgefühl das Mehrfache einer Viertelstunde - versanken sie wieder in brütendes Schweigen, aber plötzlich richtete sich Rebecca neben ihm kerzengerade im Sitz auf.
    »Was?« fragte Stefan erschrocken. Auch Wissler fuhr herum und sah Rebecca an. Er wirkte alarmiert.
    »Da... ist etwas«, sagte Rebecca zögernd. Der Blick ihrer weit geöffneten Augen war in die Dunkelheit zur Linken gerichtet. Sie blinzelte nicht.
    Auch Stefan drehte für einen Moment den Kopf, sah nichts als alles verschlingende Schwärze und wandte sich wieder seiner Frau zu. »Da ist nichts«, sagte er.
    »Aber natürlich!« protestierte Rebecca. »Hör doch! Da... da weint ein Kind!«
    Stefan lauschte einen Moment angestrengt. Im allerersten Augenblick hörte er nichts außer dem Heulen des Windes und dem gleichmäßigen Geräusch, zu dem sich das Brummen der Motoren und das Knirschen der groben Reifen auf Schnee und Stein vermengten, aber nach einigen Sekunden glaubte auch er einen dünnen, klagenden Laut zu vernehmen, so leise, daß er unter der Geräuschkulisse der entfesselten Naturgewalten eigentlich hätte verschwinden müssen. Er hörte ihn trotzdem. Er schien ganz im Gegenteil immer intensiver zu werden, wie ein dünnes weißes Licht in

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