Wolfsherz
Gesicht im Spiegel mußte einem Fremden gehören; möglicherweise einem Verwandten von ihm, denn da war schon das eine oder andere, das ihm bekannt vorkam, aber trotzdem nicht ihm selbst.
Stefan hob die Hand, mit der er sich bisher auf den Rand des Waschbeckens abgestützt hatte, und fuhr damit über den Spiegel. Es nützte nicht viel, denn der Spiegel war weder beschlagen noch sonst irgendwie verschmutzt, und selbst wenn es so gewesen wäre, hätte das nichts an dem Gesicht geändert, das ihm mit fragendem Blick entgegenstarrte: ein hohlwangiges Gespenst, zwar frisch gewaschen und mit sorgsam gekämmtem Haar, trotzdem aber mit grauer, kränklich aussehender Haut und Ringen unter den Augen, die so tief waren, daß sie fast wie aufgemalt wirkten. In den tief in den Höhlen liegenden Augen stand ein unstetes Flackern geschrieben, von dem er nicht genau wußte, was es war - Furcht oder etwas ganz anderes, etwas, das nach langem Schlaf allmählich zu erwachen begann. Wahrscheinlich war es einfach nur Müdigkeit. Stefan richtete sich auf, trat einen Schritt vom Spiegel zurück und warf einen letzten, prüfenden Blick hinein; eine Musterung, bei der er das Gesicht diesmal ganz bewußt ausklammerte. Die »Klamotten«, die Robert ihm gegeben hatte, waren wirklich nicht mehr: zerschlissene Jeans, die mindestens eine Nummer zu klein waren, und ein abgewetztes Hemd, an dem zwei Knöpfe fehlten. Weiß der Teufel, wie sich diese Sachen in Roberts Kleiderschrank vereint hatten. Aber sie waren zumindest sauber, und vor allem nicht zerrissen und mit Blutflecken besudelt. Sie mußten reichen.
Er verließ das Bad, ging ins Erdgeschoß hinab und fand Robert ganz genau dort, wo er ihn erwartet hatte: am Telefon.
»Hast du dir schon einmal überlegt, dir so ein Ding direkt ins Ohr implantieren zu lassen?« fragte er, als Robert auflegte.
Sein Schwager tippte ungerührt eine weitere Nummer ein und wartete das erste Rufzeichen ab, ehe er antwortete. »Offenbar sind meine Anwälte doch überbezahlt. Ich unterhalte mich seit zehn Minuten mit ihren Anrufbeantwortern.«
Stefan sah auf die Uhr. »Es ist nach Mitternacht.«
»Aber ich habe etwas Interessantes herausgefunden«, fuhr Robert ungerührt fort. »Dieser angebliche Mister White, dem ihr den ganzen Schlamassel zu verdanken habt... wußtest du, daß niemand in der amerikanischen Botschaft auch nur seinen N amen kennt?«
Das überraschte Stefan nicht im geringsten. Etwas anderes dafür um so mehr. »Und das alles hast du in kaum zehn Minuten herausgefunden?«
Robert verzog spöttisch die Lippen. »Manchmal hat es eben seine Vorteile, wenn man über ›gute Beziehungen‹ verfügt. Das gilt übrigens auch für Geld, überbezahlte Anwälte und Häuser mit schußsicheren Fensterscheiben.«
Diese Information war neu, überraschte Stefan aber nicht besonders. Er hatte immer geargwöhnt, daß Robert einen starken Hang zur Paranoia hatte.
»Ich schlage vor, daß wir uns später darüber streiten«, sagte er. »Ist der Arzt schon da?«
Robert nickte. »Er ist gerade gekommen. Keine Sorge - er wird keine Fragen stellen.«
Diese Sorge hatte Stefan auch gar nicht gehabt. Rebecca würde sich an das halten, was sie abgesprochen hatten, da war er ganz sicher. Sie wußte, daß sie Eva verlieren konnte, wenn sie es nicht tat.
Ein leises Summen erklang. Rebecca senkte den Blick auf einen Punkt unterhalb der Schreibtischkante - Stefan konnte ihn nicht einsehen, nahm aber an, daß sich dort ein Monitor oder irgendein anderes von Roberts heißgeliebten technischen Spielzeugen verbarg - und zog eine flüchtige Grimasse. »Unsere Freunde und Helfer. Wenn man sie nicht gebrauchen kann, sind sie pünktlich.«
»Dorn?«
»Unter anderem.« Robert stand auf und kam um den Schreibtisch herum. »Halt bloß die Klappe, und laß mich reden.«
Stefan
hielt
die Klappe - jede andere Reaktion hätte darin bestanden, diesen unverschämten Kerl am Schlafittchen zu packen und so lange zu schütteln, bis er seine überteuerten Jacket-Kronen ausspuckte. Innerlich kochend vor Wut sah er zu, wie Robert mit schnellen Schritten in der Diele verschwand. Der Leibwächter, der die ganze Zeit schweigend neben der Tür gestanden hatte, faltete die Arme auseinander und kam näher. Stefan nahm an, daß Robert ihm den Auftrag erteilt hatte, gut auf ihn aufzupassen. Stefans Blick bohrte sich in den des jungen Burschen, aber der nahm die Herausforderung nicht an; er sah zur Seite und ging mit etwas schnelleren Schritten
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