Wolfsherz
Stefan vermutete, daß Robert sie ganz bewußt abgeschaltet hatte. Nach einem kurzen Augenblick sah er auch, warum: Eine dunkel gekleidete Gestalt trat für eine oder zwei Sekunden aus den Büschen neben dem Tor heraus, warf einen suchenden Blick auf die Straße und trat dann wieder in die Deckung zurück. Sie verschmolz allerdings nicht mehr ganz mit den Schatten. Jetzt, wo Stefan sie einmal fixiert hatte, konnte er ihre Umrisse noch immer erkennen, als hätte irgendeine Art von innerem Radar sie erfaßt, das sie nun nicht mehr loslassen würde. Für jeden anderen jedoch, der auf seine normalen menschlichen Sinne angewiesen war, mußte die Gestalt dort unten vollkommen unsichtbar bleiben. Vielleicht waren Roberts gemietete Bodyguards ihr Geld doch wert.
Trotzdem fühlte er sich kein bißchen sicherer. Der Feind, der dort draußen in der Dunkelheit lauerte, war nicht mit normalen Maßstäben zu messen.
»Warum antwortest du nicht?« fragte Rebecca. Sie hatte Geduld, das mußte er ihr lassen. Seit sie ihre Frage das erste Mal gestellt hatte, mußten mindestens drei oder vier Minuten vergangen sein.
»Weil du es nicht hören willst«, sagte er; ganz bewußt so leise, daß sie es eigentlich unmöglich hören konnte. Er war nicht einmal sicher, ob die Worte wirklich über seine Lippen kamen, oder ob er sie nur formulierte, ohne ihnen Gestalt zu verleihen. In dem Bruchteil einer Sekunde, die diesen Worten folgte, betete er mit aller Inbrunst, zu der er fähig war, daß sie nicht antworten würde.
»Doch«, sagte Rebecca. »Ich will es wissen. Wie kommst du darauf?«
Rebeccas Antwort war der letzte Beweis, der letzte, verdammte Beweis, daß er nicht wahnsinnig war, sondern diesen Alptraum tatsächlich erlebte.
Der Schatten unten neben dem Tor bewegte sich wieder. Für jemanden, der eigentlich darauf bedacht sein sollte, möglichst unauffällig zu bleiben, benahm er sich ziemlich ungeschickt, dachte Stefan. Aber natürlich mußte er ihm zugute halten, daß er nach anderen Maßstäben handelte und dachte als er. Außerdem war es dort draußen vermutlich bitterkalt, so daß er gar nicht länger als einige Augenblicke reglos auf der Stelle verharren
konnte.
Trotzdem war es besser, wenn er wachsam blieb. Auch das war etwas, das sich verändert hatte: Er war ohne Mühe in der Lage, einen Teil seiner Konzentration abzuspalten und auf das Geschehen dort draußen zu lenken, ohne daß seine Aufmerksamkeit Rebecca gegenüber darunter litt. Er mußte es, denn die Nacht war voller Feinde. Er konnte fast spüren, wie sie näher kamen.
»Ich weiß es nicht«, log er. »Aber irgend etwas ist in diesem Tal mit uns passiert.«
Rebecca stand auf. Stoff raschelte, als sie ihr Nachthemd überstreifte, aber sie kam nicht zu ihm ans Fenster. Trotzdem fiel es ihm nicht schwer, ihre genaue Position innerhalb des Zimmers hinter sich auszumachen. Im ersten Moment glaubte er sogar, ihr Parfüm zu riechen, aber dann begriff er, daß es ihr eigener Geruch war, den er mit nie gekannter Intensität wahrnahm.
»Aber du weißt nicht, was.« Rebecca seufzte. »Es ist meine Schuld. Ich hätte diesem verdammten White niemals trauen sollen.«
»Es hat nichts mit White zu tun.« sagte Stefan. Und auch nichts mit den Russen. Barkows Männer mochten im Moment die größte Gefahr darstellen, aber sie waren trotzdem nicht ihr wirkliches Problem.
»Natürlich nicht«, antwortete Rebecca spöttisch. »Und was ist es dann?«
Stefan warf noch einen letzten, sichernden Blick auf die Straße hinab - nichts rührte sich, aber der Mann unten am Tor schien immer mehr unter der Kälte zu leiden, denn er bewegte sich jetzt ununterbrochen -, dann drehte er sich zu Rebecca um, sah sie eine Sekunde lang an und deutete schließlich auf das Bett. Auf Eva.
»Sie«, sagte er.
Noch während er das Wort aussprach, spürte er, daß es ein Fehler war. Es spielte keine Rolle, daß es die Wahrheit war, und daß sie es ganz genau wußte. Rebeccas Miene verfinsterte sich. Aus der Mischung aus Angst und Verwirrung in ihren Augen wurde schlagartig Zorn; und etwas, das ihm sagte, wie vollkommen sinnlos jedes weitere Wort in dieser Richtung war. Er hätte auf Robert hören sollen.
»Wie meinst du das?« fragte sie leise.
Stefan sah auf das schlafende Mädchen herab. Schon ihr Anblick reichte aus, schon wieder etwas in ihm zum Klingen zu bringen, aber er gestattete dem Gefühl nicht, zu voller Stärke zu erwachen oder gar Gewalt über ihn zu erlangen.
»Wir hätten sie niemals
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