Wolfsherz
entführt hatten. Eine naheliegende Überlegung. Und trotzdem überzeugte sie Stefan nicht. Irgend etwas stimmte nicht. So, wie das Mädchen jetzt in Beccis Armen lag, schien es ein ganz normales, kräftiges Kind zu sein, aber er erinnerte sich zu gut an sein Benehmen, als Rebecca und er versucht hatten, es zu bändigen. Es hatte sich gebärdet wie ein wildes Tier. Selbst seine Schreie hatten sich wie die eines Tieres angehört, nicht wie die eines Menschen. Und es hatte versucht, ihn zu beißen; nicht wie ein Kind, das in Panik zubiß; es hatte nach ihm
geschnappt.
Wie ein Wolf?
»Unsinn«, murmelte er.
Er hatte das Wort laut ausgesprochen, und Rebecca sah fragend zu ihm auf. »Was?«
»Ich frage mich nur, wie lange sie schon bei den Wölfen war.«
»Seit gestern abend«, antwortete Rebecca.
»Wie kommst du darauf?«
»Du hast sie doch auch gehört, genau wie ich - auch wenn dieser Dummkopf dort drüben immer noch behauptet, es wären nur Wölfe gewesen. Wahrscheinlich hat sie geweint, als diese Bestien über ihre Familie hergefallen sind.«
Ein Gedanke, der ebenfalls nahelag. Und ebenso falsch war. Dieses Mädchen war länger als ein paar Stunden in der Gewalt der Wölfe gewesen. Sehr viel länger. »Du kannst sie nicht behalten«, sagte er unvermittelt.
Rebecca tat so, als ob sie gar nicht verstünde, wovon er sprach. Allerdings nicht sehr überzeugend. »Wovon sprichst du?«
»Das Mädchen. Sobald wir hier heraus sind, müssen wir es den Behörden übergeben«, sagte Stefan. »Das weißt du.«
»Zuerst einmal müssen wir hier herauskommen«, sagte Rebecca. »Und ob seine Eltern noch am Leben sind, wissen wir nicht.«
»Und es geht uns auch nichts an«, sagte Stefan, eine Spur schärfer. »Wir können dieses Kind auf gar keinen Fall behalten.«
Für einen ganz kurzen Moment erlosch Rebeccas Lächeln, und für die gleiche Zeitspanne sah er die gleiche Härte und Unerbittlichkeit darin wie vorhin, als sie sich mit Wissler duelliert hatte. Sie würden diesen Kampf jetzt nicht ausfechten, aber Stefan wußte auch, daß er ihn verloren hätte.
»Wir klären das, sobald wir hier heraus sind«, sagte er ernst.
»Ja, sicher«, antwortete Rebecca. Sie würden nichts klären; ganz einfach, weil es für sie nichts zu klären gab, das begriff Stefan schon jetzt. Ein einziger Blick auf seine Frau, die mit diesem grotesk großen Baby im Arm dastand und trotz ihres erbärmlichen Zustandes, trotz der zerrissenen Kleidung, des eingetrockneten Blutes auf ihrem Gesicht, der fiebergeröteten Augen und des strähnigen, blutverklebten Haars so glücklich aussah wie noch niemals zuvor in ihrem Leben, machte ihm klar, daß sie ihre Entscheidung bereits getroffen hatte. Sie würde nicht darüber diskutieren, ebensowenig, wie sie sich irgend etwas befehlen lassen würde. Für Becci war die Situation ganz einfach. Das Schicksal hatte ihr das Kind zurückgegeben, das es ihr vor fünf Jahren genommen hatte, und keine Macht der Welt würde sie dazu bewegen, es sich ein zweites Mal wegnehmen zu lassen. Ohne ein weiteres Wort ging er zu Wissler zurück.
»Sie hat das Kind beruhigt«, sagte Wissler. »Gut. Ihre Frau kann gut mit Kindern umgehen. Haben Sie Kinder?«
Wenn Wissler seinen Job auch nur halb so gut beherrschte wie Stefan annahm, dann wußte er verdammt genau, daß sie keine Kinder hatten, und wahrscheinlich sogar, warum. Trotzdem schüttelte er den Kopf und sagte: »Nein.«
»Der Hubschrauber muß gleich kommen«, fuhr Wissler fort. »Ich kann ihn schon fast hören.«
»Was ist mit diesem Kind los?« fragte Stefan geradeheraus. Er behielt Wissler scharf im Auge, als er diese Frage stellte, aber der Amerikaner hatte sich entweder perfekt in der Gewalt, oder er wußte tatsächlich nicht, was Stefan meinte. Sein fragendes Stirnrunzeln wirkte hundertprozentig echt.
»Was meinen Sie?«
»Ich bin nicht blind, Wissler«, antwortete Stefan mit großem Ernst, während er sich im stillen fragte, ob er gerade dabei war, sich vollends lächerlich zu machen, »und auch nicht taub. Ich habe gehört, was Sie vorhin gesagt haben. Sie wissen etwas über das Mädchen.«
Wissler spielte seine Rolle noch zwei oder drei Sekunden lang weiter, aber dann zuckte er mit den Schultern und antwortete doch; wenn auch nicht, bevor er einen raschen Blick zu Rebecca hin geworfen hatte. »Nicht über dieses Kind«, sagte er betont. »Aber über Kinder
wie
dieses.«
»Was soll das heißen: ›Kinder wie dieses‹?«
Wissler suchte mit einem
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