Wolfsherz
doch!«
»Das ist der Hubschrauber«, antwortete Wissler, aber Rebecca schüttelte den Kopf.
»Das meine ich nicht«, sagte sie. »Die Wölfe! Sie haben aufgehört zu heulen.«
Stefan hob mit einem Ruck den Kopf, und im gleichen Moment wurde es ihm auch bewußt: Der Chor der heulenden Wolfsstimmen war verstummt, ebenso plötzlich und einstimmig, wie er eingesetzt hatte, und mit der gleichen, ja, vielleicht noch unheimlicheren Wirkung. Wahrscheinlich gab es eine ganz einfache Erklärung dafür, dachte Stefan nervös. Es wurde hell, und vielleicht hörten die Tiere immer zu dieser Zeit auf, den Mond anzuheulen. Oder sie hatten den Hubschrauber gehört und waren erschrocken.
Aber es gab auch noch eine andere, viel schlimmere Erklärung. Stefan begriff sie in demselben Moment, in dem er den Schatten erblickte, der hinter Rebecca am Waldrand erschienen war.
Es war ein Wolf.
Und es war nicht irgendein Wolf, sondern der größte und kräftigste Wolf, den Stefan jemals gesehen hatte. Das Tier war riesig und mußte mindestens doppelt so viel wiegen wie die beiden, die Wissler auf der Lichtung erschossen hatte. Es hatte ein nachtschwarzes dichtes Fell mit einer schmalen weißen Blesse auf der Brust, und seine Pfoten mußten größer sein als Stefans Hände. Und es war das mit Abstand häßlichste Tier seiner Art, das Stefan je zu Gesicht bekommen hatte: Seine Schnauze war stumpf und breit und gespickt mit nadelspitzen, mörderischen Zähnen, die zu einem tödlichen Grinsen gebleckt waren, und es hatte übergroße, abstehende Ohren, die jedem anderen Tier an seiner Stelle ein einfach nur komisches Aussehen verliehen hätten - ihm nicht. Das Abstoßendste allerdings waren die Augen; übergroß und hervorquellend wie bei einem an Myxomatose leidenden Kaninchen, aber von etwas erfüllt, das Stefan einen eisigen Schauer des Entsetzens über den Rücken laufen ließ. Es war die gleiche unlöschbare Wut, wie er sie im Blick des Wolfs auf der Lichtung gesehen hatte, aber da war auch noch mehr; etwas, das Stefan nicht verstand und das er auch gar nicht verstehen
wollte,
denn es zu akzeptieren hätte bedeutet, alles zu verleugnen, woran er jemals in seinem ganzen Leben geglaubt hatte. Dieser Wolf war mehr als ein Tier. Unendlich viel mehr.
Hinter dem schwarzen Riesen traten ein zweiter und dritter Wolf aus dem Wald, und der Anblick brach den Bann, der Stefan für einen Moment ergriffen hatte. Es waren nicht nur diese drei Wölfe. Überall raschelte und knisterte es plötzlich, und er sah weitere schleichende Bewegungen am Rande seines Gesichtsfeldes. Die Meute, die sie bisher vermißt hatten, war gekommen.
»Lauft!«
brüllte Wissler.
Rebecca und Stefan fuhren im gleichen Moment herum und stürmten los, während Wissler die Maschinenpistole von seiner Brust riß und eine kurze, beinahe ungezielte Salve auf den Waldrand abschoß.
Es war wie ein Signal. Für zwei, drei Sekunden schienen der Waldrand und das Flußufer in einer einzigen Explosion aus Lärm und tobender Bewegung auseinanderzubersten. Wissler feuerte. Becci und Stefan schrien ununterbrochen. Plötzlich schienen überall Wölfe zu sein. Orangerote Flammen stachen durch die Nacht. Die Wölfe heulten, und auch das Kind hatte wieder angefangen, in jenen unheimlichen, wimmernden Lauten zu weinen, und ganz am Rande seines Bewußtseins registrierte Stefan, daß auch das Hubschraubergeräusch näher gekommen war. Das alles schien nicht nur rasend schnell zu geschehen, sondern überhaupt keine Zeit in Anspruch zu nehmen, denn Stefan registrierte all diese Einzelheiten, noch bevor Rebecca und er auch nur den ersten Schritt zurückgelegt hatten.
Er dachte nicht darüber nach, wohin sie laufen sollten; die Wölfe - es waren mindestens ein Dutzend, erkannte Stefan entsetzt, als er einen Blick über die Schulter zurückwarf- stürmten aus drei Richtungen zugleich hinter ihnen her, und in der vierten gab es nur den zugefrorenen Fluß. Die Bäume auf der anderen Seite waren mindestens zwanzig Meter entfernt. Selbst wenn ein Wunder geschah und sie das Ufer erreichten, würden sie wahrscheinlich nicht mehr die Kraft haben, daran emporzuklettern; und schon gar nicht die Zeit.
Wisslers MPi stieß eine zweite abgehackte Salve aus. Er hatte mindestens einen Wolf getroffen, wie das schrille Heulen bewies, das sich plötzlich in das Jaulen und Kläffen der Meute mischte, aber die übrigen Tiere stürmten mit entsetzlicher Schnelligkeit weiter heran. Wissler schwenkte seine Waffe herum
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