Wolfsherz
anderen Tiere nun angreifen würden. Ohne die geringste Hoffnung warf er sich über Becci und das Kind, schloß die Augen und betete, daß es wenigstens schnell gehen würde. Er hatte Angst vor dem Tod, aber noch viel größere Angst vor der Qual, die ihm vielleicht vorausgehen mochte.
Als die Wölfe auf sie zusprangen, begann über ihnen in der Luft ein Maschinengewehr zu hämmern.
Stefan öffnete die Augen. Zu dem eisigen Wind hatte sich ein zweiter heulender Orkan gesellt, der senkrecht vom Himmel herabzufauchen schien und die dünne Schneedecke auf dem zugefrorenen Fluß in Sekundenschnelle davonwirbelte. Zwischen ihnen und den Wölfen stoben meterhohe Explosionen aus winzigen Splittern aus der Eisdecke. Mindestens einer der Wölfe war getroffen worden und reglos liegengeblieben, und die anderen schienen instinktiv zu begreifen, daß sie mit diesem neu aufgetauchten, unsichtbaren Gegner nicht fertigwerden würden, denn sie wandten sich urplötzlich zur Flucht und hetzten davon.
Der Hubschrauberpilot verzichtete darauf, weiter auf sie zu schießen. Die Maschine sank mit heulenden Rotoren tiefer und setzte wenige Meter neben Stefan, Rebecca und Wissler auf dem Eis auf, und Stefan blieb nicht einmal genug Zeit, Erleichterung zu empfinden, bevor er endgültig das Bewußtsein verlor.
Teil 2
Stefan betrachtete nachdenklich das halbe Dutzend Männer und Frauen, das vor ihm auf den billigen Plastikstühlen Platz genommen hatte, mit denen das Wartezimmer möbliert war. Auf ihren Gesichtern waren im großen und ganzen die gleichen Empfindungen abzulesen, die auch er spürte: Frustration, Nervosität, vielleicht eine Spur von Angst, aber zum allergrößten Teil Langeweile. Zwei oder drei dieser Gesichter kannte er; er kam jetzt seit zehn Tagen regelmäßig hierher und er schien nicht der einzige zu sein, der es vorzog, jeden Tag den Weg hier heraus in Kauf zu nehmen und zwei oder auch drei und, wenn er Pech hatte, mehr Stunden darauf zu warten, an die Reihe zu kommen, statt sich ein Bett hier im Krankenhaus zu nehmen und sich bei der morgendlichen Visite untersuchen zu lassen.
Manchmal fragte er sich, ob es ein Fehler war. Er verbrachte ohnehin den größten Teil seiner Zeit hier in der Klinik - entweder in diesem Warteraum, in einem der drei angeschlossenen Behandlungszimmer oder zwei Etagen tiefer an Beccis Bett -, und die wenigen Stunden, die er noch zu Hause zubrachte, reichten kaum aus, um den gewaltigen Berg an Arbeit zu erledigen, den er nicht hätte, wäre er einfach nicht greifbar.
Seine rechte Hand fuhr in einer unbewußten Geste über den linken Oberarm, während er den Blick hob und die rot leuchtende Digitalanzeige über der Tür ansah. Neunundzwanzig. Seine Nummer war die nächste, die an der Reihe war. Die Berührung tat weh, trotzdem fuhr er fort, mit den Fingerspitzen leicht über seinen Arm zu fahren, um den Muskel zu massieren. Obwohl die Wunde viel weniger tief war als die in seinem Bein, machte sie ihm erheblich mehr zu scharfen. Fast jede Bewegung des Armes tat weh, und es verging keine Nacht, in der er nicht mindestens zwei- oder dreimal vor Schmerz aufwachte, wenn er sich herumdrehte und den Arm belastete.
Aber er wollte sich nicht beschweren. Wenn er bedachte, in welchem Zustand Rebecca und er vor vierzehn Tagen gewesen waren, als der Helikopter auf dem vereisten Fluß in Bosnien landete, dann erschien es ihm fast wie ein kleines Wunder, daß er jetzt tausend Kilometer entfernt in einem Wartezimmer saß und im Grunde nichts weiter spürte als ein leichtes Ziehen in der Schulter und ein Gefühl tödlicher Langeweile.
Stefan haßte es, zu warten. Er war es gewohnt; sein Job brachte es mit sich, daß er manchmal Stunde um Stunde warten mußte, manchmal ganze Tage und Nächte - auf einen ganz bestimmten Lichteinfall, eine ganz bestimmte Gelegenheit, einen ganz bestimmten Schnappschuß, den er nur zu oft dann doch nicht bekam.
Aber daß er das Warten kannte, bedeutete nicht, daß er es lieben mußte.
Nicht, wenn es soviel Besseres gab, das er mit seiner Zeit anfangen konnte. Zum Beispiel nach Hause zu fahren, ungefähr achtzig Anrufe abzuhören und sich zu überlegen, welche davon er ignorieren und welche der Anrufer er mit immer neuen Ausreden abspeisen sollte, dachte er sarkastisch. Er war immer noch nicht sicher, ob es nicht ein Fehler gewesen war, auf einer ambulanten Behandlung zu bestehen, aber eines wußte er mit Sicherheit: Es war falsch gewesen, sich sofort zurückzumelden. Daß Becci
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