Wolfsherz
wie
üblich nicht einmal Gelegenheit, sich zu verabschieden. Der Arzt hatte sich bereits herumgedreht und marschierte im Sturmschritt aus dem Zimmer, um den nächsten Patienten abzufertigen.
Stefan war sich immer noch nicht darüber im klaren, ob er Dr. Krohn nun mochte oder nicht. Er hatte ihn gut versorgt, und er verfügte zumindest über einen rudimentären Sinn für Humor, aber er machte keinen Hehl daraus, daß seine Patienten im Grunde für ihn nichts als
Fälle
waren. Egal, letztendlich galt das wohl für jeden Arzt. Die meisten anderen waren wohl einfach nur bessere Schauspieler.
Stefan stand auf, rollte sein Hosenbein herunter und schlüpfte vorsichtig in sein Hemd. Seine Schulter tat jetzt noch mehr weh als zuvor, aber er widerstand der Versuchung, sie nicht mehr als unbedingt notwendig zu bewegen. Die Wunde war weit genug verheilt, um nicht bei jeder kleinsten Bewegung aufzubrechen, und er hatte keine Lust, zu allem Überfluß auch noch ein halbes Jahr Krankengymnastik betreiben zu müssen, um später, wenn alles vorbei war, mit dem linken Arm mehr als eine Dose Bier heben zu können.
Als er das Behandlungszimmer verließ, stieß er fast mit dem nächsten Patienten zusammen, der ungeduldig hereindrängte. Obwohl es nicht seine Schuld war, murmelte Stefan eine Entschuldigung, quetschte sich an dem grauhaarigen Mann vorbei und durchquerte auf Beinen, die immer noch ein bißchen wackelig waren, das Wartezimmer.
In der knappen Viertelstunde, die er drinnen gewesen war, hatte es sich gefüllt. Statt einer Handvoll warteten nun sicher zwei Dutzend Patienten darauf, an die Reihe zu kommen, und vor dem Karfeeautomaten neben dem Ausgang war ein regelrechter kleiner Auflauf entstanden. Stefan ging in einem großen Bogen darum herum, stieß aber trotzdem fast mit einem jungen Mann zusammen, der genau in diesem Moment rückwärts von der Maschine zurücktrat und an einem weißen Plastikbecher mit dampfend heißem Kaffee nippte. Auch dieses Mißgeschick war nicht seine Schuld. Trotzdem murmelte er auch jetzt wieder ein Wort der Entschuldigung und wollte weitergehen, aber in diesem Moment drehte sich der junge Mann um und sah ihn auf eine Art an, die Stefan dazu brachte, für den Bruchteil einer Sekunde im Schritt innezuhalten.
Der Bursche hatte ein Allerweltsgesicht, blondes, streichholzkurz geschnittenes
Haar und trug eine Jacke aus billigem schwarzem Lederimitat und verwaschene
Jeans. Aber in seinem Blick war etwas, das in krassem Widerspruch zu diesem
äußeren Eindruck stand: eine Entschlossenheit und ein brodelnder Zorn, die in Stefan sämtliche Alarmsirenen zum Heulen brachten. Einen winzigen Moment lang war er sicher, diesen Augen schon einmal begegnet zu sein; auch wenn er zugleich wußte, daß er diesen Burschen noch nie zuvor gesehen hatte. Es war der Ausdruck in seinen Augen, der ihn fast zu Tode erschreckte.
Stefan trat hastig einen weiteren halben Schritt zurück, murmelte eine zweite Entschuldigung und betete, daß der junge Kerl nicht zu jenen Typen gehörte, die einen so banalen Zwischenfall wie diesen zum Anlaß nahmen, einen Streit vom Zaun zu brechen oder gleich eine Schlägerei. Wahrscheinlich tat er ihm damit unrecht, aber er konnte nicht aus seiner Haut. Der Ausdruck, den er in den Augen des anderen las, ließ ihn den Burschen ganz instinktiv in jene Gruppe von Verrückten einordnen, die er auf der ganzen Welt am meisten fürchtete; auf eine gewisse Weise mehr als beißwütige Wölfe und rachsüchtige russische Söldner: jene Irren, die in den letzten Jahren unmerklich, aber doch in immer größerer Anzahl aus dem Ghetto amerikanischer Actionfilme und Gruselgeschichten ausgebrochen waren und sich in der Wirklichkeit breitgemacht hatten und für die Gewalt und Terror etwas ganz Normales waren.
Aber dann erlosch das Funkeln in den Augen des anderen. Er zuckte mit den Schultern, zwang ein unechtes Lächeln auf seine Lippen und nippte erneut an seinem Kaffee, während er sich bereits herumdrehte.
Stefan ging weiter. Der winzige Zwischenfall hatte nicht einmal eine Sekunde gedauert, und keiner der anderen hier im Warteraum hatte auch nur Notiz davon genommen, aber er hatte trotzdem das Gefühl, angestarrt zu werden. Nicht zum erstenmal gestand sich Stefan ein, daß er im Grunde seines Herzens wohl ein Feigling war.
Er verließ das Wartezimmer, ging zum Aufzug und fuhr in die dritte Etage hinauf, wo Beccis Zimmer lag. Es war fast zwei. Sein Termin war heute später als sonst gewesen, und er
Weitere Kostenlose Bücher