Wolfsherzen - Eine Liebe in Alaska
sicherer wird sie. Als sie dann vor ihm steht, hat sie traurige Gewissheit. Aufgewühlt blickt sie auf ein einfaches Holzkreuz inmitten des Hügels herab, auf welches mit großen Buchstaben „Anouk“ hineingeschnitzt wurde. Das Kreuz sieht gut erhalten aus. Da bemerkt sie tiefe, frische Spuren im Schnee. Lucius war hier. Sie kniet sich in den Schnee und berührt das Kreuz.
„Welches Geheimnis hast du nur, arme Anouk“, murmelt sie. Als sie wieder an ihren Traum von ihr denkt, entsinnt sie sich des toten Säuglings. Sie hatten ein Kind. Aber warum starb auch dieses? Armer Lucius. Die Trauer in seinen Augen wird sie nie vergessen. Unruhe steigt mit einem Male in ihr auf und reißt sie aus ihren trübsinnigen Gedanken. Sie kommt sich beobachtet vor und blickt sich wachsam um. Doch es ist weit und breit niemand zu sehen. Sie bemerkt, dass man von hier aus einen guten Blick zur Hütte hat. Schwerfällig erhebt sie sich, wirft dem Grab noch einmal einen nachdenklichen Blick zu und kehrt dann zum Eisloch zurück. Dort nimmt sie den halbvollen Wassereimer auf und geht zur Hütte hinauf. Sie bleibt davor stehen und blickt noch einmal zum See hinab. Der kleine Hügel mit dem Grab ist gut erkennbar. Es erinnert sie an die vergangene Nacht, als Lucius hier im Schnee gestanden und auf den See herabgeblickt hat.
Gedankenversunken wendet sie sich wieder zur Hütte um, als sie beinahe mit einer großen, dunklen Gestalt direkt vor ihr zusammenprallt. Mit einem entsetzten Aufschrei fährt sie zusammen, so dass ihr der Wassereimer entgleitet und schwappend dumpf im Schnee aufsetzt.
Er lacht. „Nein! Bitte habe keine Furcht vor mir!“
Lucy weicht einen Schritt vor ihm zurück. Warum kommt er ihr so nahe, schleicht sich an? Sie mustert ihn. Er ist ein Eingeborener. Sein glattes, rabenschwarzes Haar fällt ihm bis auf die Schultern. Er trägt einen langen, dunklen Anorak und sieht sie eindringlich aus ebenfalls annähernd schwarzen Augen an. Doch sie wirken kalt, fast wie Löcher in einem braungefärbten Gesicht. Seine Nase ist groß, sein Mund eher schmal und lächelt. Aber sein Lächeln breitet sich nicht auf die Augen aus. Sein Gesicht wirkt angespannt. Er ist groß, überragt sie um etwas weniger als eine Haupteslänge und kommt damit ungefähr an Lucius‘ Körpergröße heran. Wie wünscht sie sich Lucius herbei! Denn sie spürt, dass mit dem Mann etwas nicht stimmt. Er ist unruhig. Seine Bewegungen sind fahrig und unsicher.
Er streckt ihr seine Hand entgegen, so dass ihm sein blauschwarzes, langes Haar ins Gesicht fällt. „Anouk. Ich bin‘s, Raven. Komm mit nach Hause.“
Lucy weicht seiner Hand aus und starrt ihn entsetzt an.
„Was ist?“ Er streicht sich eine schwarze Strähne aus der Stirn und blickt mit einem selbstsicheren Lächeln auf sie herab.
Er kommt Lucy plötzlich verändert vor. Selbstbewusster. Seine Bewegungen sind sicher und beinahe lässig geworden.
„Komm Anouk“, meint er nun ungeduldig, als sie nicht reagiert. „Deine Familie vermisst dich. Wolf hat dich geschlagen. Verlass ihn endlich und komm zu mir zurück. Mit unserem Kind.“
„Ich bin Lucy“, entringt es sich ihr heiser.
„Nein“, ruft er aufgebracht, so dass Lucy zusammenfährt. „Nein!“ Er fasst sich an die Stirn. Blitzschnell ergreift er Lucys Hand und will sie umständlich wegzerren. Doch sie entzieht sich ihm ruppig.
„Ich … ich komme immer zu Neumond an dein Grab, Anouk“, bringt er stockend hervor.
„Warum bist du dann heute hier? Es ist abnehmender Mond!“ Sie spürt, dass sein Inneres geteilt ist. Durch irgendetwas gespalten wurde. In einen unsicheren Raven und einen, der selbstsicher und gewaltvoll ist. Doch sie will sein Spiel mitspielen und wird Anouk sein. Sie muss in die Hütte zur Pumpgun kommen! Denn sie spürt auch, dass sein zerrissenes Inneres Gefahr bedeutet. Er ist verzweifelt.
„Ich bin hergekommen, weil ich geträumt habe, dass du wieder hier bist. Du bist wieder mit Wolf hier.“
Lucius ist Wolf!
„Deine Großmutter hat dich gesucht, Anouk. Warum hast du dich vor ihr versteckt? Warum bist du mit Wolf weggegangen? Er kann dir keine Liebe geben. Er kennt nur Prügel und schlägt dich.“ Er macht einen Schritt auf sie zu, so dass Lucy vor ihm zurückweicht. „Du bist ihm hörig“, ruft er verächtlich und verzieht das Gesicht wie vor Schmerz. „Ich hasse ihn und bereue jeden Tag, ihn erst zu dir gebracht zu haben!“ Er schnellt plötzlich vor und ergreift ihr loses Haar. Brutal zerrt er
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