Wolfsinstinkt
sitzen. Wahrscheinlich wollte er so die Spannung steigern.
„Ich weiß zwar nicht viel über sie, dafür kenne ich dort jemanden.“
Tala schnappte überrascht nach Luft. „Tatsächlich? Und wieso hast du mir nie davon erzählt?“
„Nun ja, weil ich nicht der Meinung war, du würdest darüber etwas hören wollen.“ Matoskah zwinkerte Ricky amüsiert zu.
„Du erinnerst dich doch an meinen Sohn, nicht wahr, Tala? Meinen leiblichen Sohn.“
Tala nickte langsam. Ricky allerdings verstand nicht so recht. Wenn Matoskah einen Sohn hatte, wieso war er dann nicht hier? Offenbar waren ihm seine Gedanken am Gesicht abzulesen, denn Matoskah lächelte ihn fast schon traurig an.
„Es ist so“, begann er. „Als mein Sohn vierzehn Jahre alt war, hat er sich das erste Mal in einen Bären verwandelt. Viel früher als ich damals – früher als die meisten Tierwesen. Ich war stolz auf ihn und gleichzeitig wusste ich, dass uns das trennen würde.“
Matoskahs Miene wurde trauriger. „Wer die Seele eines Tieres in sich trägt, der hat immer eine Aufgabe im Leben. Die wird allerdings erst nach der Wandlung erkennbar und hängt vom Charakter des Betreffenden ab. Hon – so heißt er – war der festen Überzeugung, dass er in meine Fußstapfen treten und ein Schamane werden würde. Auch ich habe das geglaubt. Ich nahm ihn in die Lehre, allerdings stellte sich bald heraus, dass die Götter einen anderen Weg für ihn geplant hatten. Er ist ein Wächter. Genau wie Tala einer ist. Ein Schamanenwandler ist ruhiger und besonnener, ein Wächter braucht Mut, Ausdauer, eine gewisse Aggressivität und die Lust auf Abenteuer. Natürlich hätte er auch ein Jäger sein können, doch dafür ist er als Bär eher ungeeignet. Und Wandler, die sich zu Kriegern entwickeln, sind so selten, dass man sie wohl weltweit an einer Hand abzählen kann.“
Ricky hob die Brauen und sah zu seinem Geliebten. Was er in dessen Gesicht entdeckte, war alles andere als das, was er erwartet hatte. Er hatte mit Trauer gerechnet, ähnlich wie bei Matoskah, oder Mitgefühl. Doch Tala wirkte verbissen. Matoskah schien sich daran nicht zu stören.
„Er musste also fortgehen und sich seinen Platz in der Welt suchen“, beendete Matoskah. In Ricky kamen weitere Fragen auf. Fragen, von denen er nicht wusste, ob er sie einfach so stellen konnte.
„Also“, sagte er dann an Tala gewandt. „Bist du mit ihm aufgewachsen?“
Tala nickte. Auf einmal hob er den Kopf und reckte leicht das Kinn. In seinem Gesicht waren Schmerz und Leid zu erkennen.
„Ja. Das bin ich.“ Es war offensichtlich, dass Tala darüber nicht sprechen wollte, denn er warf Matoskah einen Hilfe suchenden Blick zu.
Ricky wandte sich dem Schamanen zu.
„Es war so, Ricky“, fuhr Matoskah fort. „Tala kam zu mir, als er noch ein Baby war, ein Jahr alt, in etwa. Meine Frau war zu der Zeit gerade schwanger geworden. Tala und Hon wuchsen wie Brüder auf und ich hatte sie beide unter meinen Fittichen. An dem Tag, als Hon klar wurde, dass er ein Wächter sein sollte, kam in Tala der Wächter durch.“
Ricky schluckte. Er warf Tala einen kurzen Blick zu, der einfach ins Nichts starrte. Wahrscheinlich versunken in Erinnerungen.
„Menschen reden und treffen Vereinbarungen. Sie einigen sich. Meistens zumindest. Damit kein Konflikt mit dem Tier in ihnen aufkommt, wurde es sozusagen zur Tradition, dass der Stärkere das Revier bekommt, wenn zwei Wächter gleichzeitig Anspruch darauf erheben.“ Matoskah seufzte schwer. Die Jahre seines Alters schienen mit einem Mal schwer auf seinen Schultern zu lasten.
„Sie haben gekämpft“, flüsterte Ricky benommen. „Und Tala hat den Kampf gewonnen.“
„Ganz genau“, mischte sich Tala wieder ein. Seine Stimme war erschreckend fest und ernst. Ricky erkannte darin den Zorn, den Tala für sich selbst empfand. „Ich habe den Kampf gewonnen und Hon musste fort. Fort von seiner Familie und seinem Volk. Fort von ...“
„Tala!“ Matoskah schnitt ihm das Wort ab. „Du weißt, du bist der Einzige, der dir deswegen Vorwürfe macht. So ist nun einmal der Lauf der Dinge und du konntest nichts dafür. Es ist alles so gekommen, wie es kommen musste!“
Für Ricky war das alles hochinteressant, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie Tala sich nun tatsächlich fühlte. Es war ihm anzumerken, dass ihm leidtat, was mit Hon passiert war, und er sich schwere Vorwürfe machte. Wobei Ricky sich die Frage stellte, was ein Wolf gegen einen Bären ausrichten konnte
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