Wolfskinder - Lindqvist, J: Wolfskinder - Lilla stjärna: Wolfskinder
war. Aber so sah die Lage jetzt aus: Es ging auf Biegen und Brechen. Er war zum ersten Mal in seinem Leben verliebt, und wenn es schiefging, dann ging es eben schief.
Trotzdem machte er sich Sorgen, als er den Schlüssel ins Schloss steckte und bemerkte, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Er trat in den Flur und rief: »Theres? Theres? Bist du da? Theres?«
Auf dem Tisch im Wohnzimmer lagen die Hüllen von Saw und Hostel . Seine eigene Matratze lag auf dem Fußboden neben Theres’ Bett. Brotkrümel und ein leeres Babygläschen auf dem Küchentisch. Nirgendwo ein Zettel, und wie ein Kriminaltechniker ging er herum und versuchte zu rekonstruieren, was die Mädchen getan hatten, bevor sie verschwunden waren.
Er setzte sich an den Küchentisch, fegte die Krümel in eine Hand und aß sie auf. Er konnte nichts anderes tun als warten. Er saß am Tisch und schaute aus dem Fenster, und alles kam ihm wie ein Traum vor. Theres hatte es nie gegeben. Die Ereignisse des vergangenen Jahres waren nie eingetroffen. Würde er mit einem vierzehnjährigen Mädchen zusammenwohnen, das seine Eltern umgebracht hat und in den Augen der Gesellschaft gar nicht existiert? Das wäre ja absurd.
Er zog sein Hemd über die Schulter hinunter und betrachtete das leuchtend rote Mal, das Paris’ Zahnreihen in seiner weißen Haut hinterlassen hatten. Das jedenfalls war ganz offensichtlich passiert. Dann war es ja gut. Er stand auf und trank ein Glas Wasser, überlegte, was er tun könnte, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.
Als es zehn Minuten später an der Tür klingelte, war er überzeugt, dass es nur die Polizei oder irgendeine Amtsperson sein konnte, die dem Ganzen auf die eine oder andere Weise ein Ende setzen würde. Aber es waren die Mädchen.
»Wo zum Teufel seid ihr gewesen?«
Theres huschte ohne zu antworten in die Wohnung, und Teresa zeigte auf eine unsichtbare Uhr an ihrem Handgelenk. »Ich muss los. Mein Zug geht in einer halben Stunde.«
»Ja, ja. Aber wo seid ihr gewesen?«
Teresa lief schon die Treppen hinunter, als sie über die Schulter zurückrief: »Ausgegangen.«
Als er in die Wohnung kam, war Theres gerade dabei, die Matratze wieder aus ihrem Zimmer zu schleppen. Er griff nach dem anderen Ende, half ihr, sie zurückzutragen, und setzte sich anschließend auf sein Bett.
»Hör mal«, sagte er. »Jetzt erzähl schon. Was habt ihr gemacht?«
»Wir haben Lieder gemacht. Teresa hat den Text gemacht. Es ist gut geworden.«
»Okay. Und dann habt ihr euch Horrorfilme angeguckt und habt euch alle beide in deinem Zimmer schlafen gelegt, weil ihr Angst bekommen habt …«
Theres schüttelte den Kopf. »Keine Angst. Wir waren fröhlich.«
»Ja, das wart ihr bestimmt. Aber was habt ihr heute Morgen gemacht?«
»Max Hansen getroffen.«
»Den Agenten, der geschrieben hat? Was zum Teufel habt ihr euch dabei gedacht?«
»Ich werde eine Scheibe machen.«
Theres stand vor ihm, und Jerry griff nach ihrer Hand. »Verdammt, Theres. Du darfst solche Sachen nicht machen. Du kannst nicht einfach so wegfahren, ohne dass ich dabei bin. Das begreifst du doch?«
Theres zog ihre Hand weg und musterte sie, als wollte sie sichergehen, dass sie keinen Schaden von der Berührung davongetragen hatte. Dann sagte sie: »Teresa war dabei. Das war besser.«
9
Teresa wusste nicht, wie viel von ihr im Zug nach Österyd saß. Es kam ihr vor, als wäre es weniger als die Hälfte. Die wesentlichen Teile hatte sie in Stockholm bei Theres in Verwahrung gegeben, und was ihren Sitzplatz in Anspruch nahm, war nur ein behelfsmäßig funktionierender Sack aus Blut und Eingeweiden.
Es war betörend und ziemlich unbehaglich zugleich. Sie war nicht mehr Herr über sich selbst. Die dünnen Flaumhaare an ihren Unterarmen vermissten Theres’ Nähe, die Wärme ihres Körpers an ihrer Seite. Ja. Als sie ihre Sehnsucht näher in Augenschein nahm, stellte sie fest, dass es genau so aussah: Sie wollte neben Theres sein. Sie brauchten nichts zu sagen oder zu tun, konnten schweigend nebeneinandersitzen, solange sie nur zusammen waren.
Sie hatte noch nie etwas Vergleichbares erlebt. Das rein physische Empfinden eines Mangels , dass etwas Großes und Wichtiges abwesend war. Sie war nicht blind. Ihr war klar, dass mit Theres etwas nicht stimmte, vielleicht hatte sie sogar eine Art von Hirnschaden. Sie machte nichts so, wie normale Menschen es machen würden, aß noch nicht einmal normales Essen.
Aber »normal«? Was war an »normal« denn so gut?
Die Menschen in
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