Wolfskinder - Lindqvist, J: Wolfskinder - Lilla stjärna: Wolfskinder
Tages am Leben erhalten würde. Sie hatte gewonnen.
So ging es weiter. Tag für Tag marschierte Teresa in ihren roten Stiefeln zur Schule, und sie fürchtete nichts und niemanden. Spürte keine Sehnsucht und keine Reue. Wenn sie Micke begegnete, nickte sie ihm zu, und er nickte zurück. Es gab nichts zu sagen und keine Gefühle mehr. Sie waren zusammen mit ihrer Kindheit gestorben, waren in roten Pfützen auf dem Zementboden versickert.
Sie hätte trauern können, tat es aber nicht, weil ihre Gefühle durch Wahrnehmungen ersetzt worden waren. Ihre Sinne waren aufs Schärfste gespannt, und befreit vom Kampf ihres Gehirns mit sich selbst, erlebte Teresa alle Eindrücke um ein Vielfaches verstärkt.
Sie konnte durch einen Flur gehen und das Gemurmel hinter den geschlossenen Türen genießen, die Farben der Schränke und Wände, den Duft nach trocknenden Kleidern, Papier und Putzmitteln. Alle Sinneseindrücke genießen, die sie zusammengenommen zu einem Wesen in der Welt machten, zu jemandem, der sich bewegte und lebte. Diese selbstverständliche Tatsache, die sie fünfzehn Jahre lang übersehen hatte: dass sie lebte.
Also trauerte sie nicht um das, was sie verloren hatte, sondern freute sich stattdessen darüber, was sie gewonnen hatte und was sie geworden war. So einfach war es. Selbst wenn man es ihr nicht ansah, so war sie doch froh.
Am Dienstagabend mailte sie eine Weile mit Theres hin und her, machte Pläne für das Treffen mit den anderen Mädchen am Wochenende. Sie legten sich auf zwölf Uhr am Sonntag fest, aber weil Jerry mittlerweile wieder zu Hause war, konnten sie sich nicht in Svedmyra treffen. Sie würden sich draußen verabreden. Aber wo? Sie wollten sich weiter Gedanken darüber machen, und es wurde noch nichts festgelegt.
Teresa surfte eine Weile zum Thema Wölfe im Internet, las ein paar neue Beiträge im Forum und landete bei der Suche zufällig auf einer Auktionsseite, auf der jemand ein Wolfsfell anbot. Das Mindestgebot lag bei sechshundert Kronen, die Auktion sollte in ein paar Stunden enden, und bislang hatte noch niemand ein Gebot abgegeben.
Sie betrachtete das Foto von dem grauen Pelz, der auf einem gewöhnlichen Küchentisch ausgebreitet lag. Früher gehörte er zu einem richtigen Wolf, dem Jäger des Waldes. Unter diesem Pelz hatten Muskeln gearbeitet, er hatte sich an anderen Pelzen gerieben, war über den Schnee gelaufen und hatte unter den Sternen geheult. Wenn jemand ihn kaufte, würde er vielleichtvor einem offenen Kamin landen, etwas Weiches, auf dem die Kinder sitzen konnten.
Ohne weiter darüber nachzudenken, gab Teresa ein maximales Gebot von tausend Kronen ab. Fünf Minuten später erhöhte sie es auf zweitausend. Das war alles Geld, was sie auf dem Konto hatte. Die Scheine aus der Tageskasse hatte sie Theres gegeben.
Sie legte sich auf das Bett und las Ekelöf. Dieser Gleichklang, den sie empfunden hatte, als sie aus der Klinik nach Hause gekommen war, existierte nicht mehr, und sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie Ekelöf weich fand. Ein Weichling. Ein kleiner Tintenkleckserwurm. Und trotzdem. Ein paar Mal hintereinander las sie die Zeilen:
Die Stille der tiefen Nacht ist groß
Unberührt vom Rascheln der Menschen
die hier auf dem Strand einander fressen
Sie mochte das Wort »Rascheln«. Mehr war es nicht. Ein Rascheln, wenn das Fleisch zermahlen wird.
Sie legte das Buch zur Seite, verschränkte die Hände hinter dem Nacken und vermisste ihren MP3-Player. Der Gedanke, dass sich Max Hansen gerade in diesem Augenblick ihre Kopfhörer in die Ohren gesteckt hatte und sich die Lieder anhörte, die sie und Theres aufgenommen hatten, gefiel ihr nicht. Er gefiel ihr überhaupt nicht. Es war so, als würde man wissen, dass man ein Schwein im Kleiderschrank hatte, einen Rüssel, der in den sauberen Kleidern herumsuhlte.
Das Handy klingelte, und als Teresa antwortete, erwartete sie diese schleimige Stimme aus der Tiefe des Schweinestalls zu hören, aber es war Johannes. Nach ein paar einleitenden Phrasen fragte er, wie es ihr gehe, und sie antwortete, dass es ihr rundherum gut gehe.
»Weil«, sagte Johannes, »ich so das Gefühl habe, dass … ich weiß nicht, dass du irgendwie weg bist.«
»Ich bin nicht weg. Ich bin hier.«
»Warum gehst du mir dann aus dem Weg?«
»Tu ich das?«
»Ja, das tust du. Glaubst du, das habe ich nicht gemerkt?«
»Was spielt das für eine Rolle? Du willst ja nichts mit mir zu tun haben.«
Ein langes Seufzen klang vom anderen Ende
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