Wolfskrieger: Roman (German Edition)
Eher ein Strudel, der ihn in dunkle Abgründe ziehen wollte.
»Fenrisulfur.«
Es fühlte sich richtig an, als hätte er zum ersten Mal seinen wahren Namen ausgesprochen.
»Sie haben mich ebenso gefesselt wie meinen Vater«, hörte er sich sagen.
»Was redest du da? Wir müssen das Schiff dort erreichen«, sagte Bragi.
»Ich werde ihren Lebenssaft vergießen.«
»Prinz, du bist im Fieberwahn. Leg dich wenigstens hin, sonst wirst du noch verletzt.«
»Fenrisulfur.«
Vali stürzte sich mitten ins Kampfgetümmel. Es war köstlich: der nach Furcht und Wut stinkende Schweiß, das Blut, vor allem das Blut, wo der süße Pfeil sein Werk tat, wo das schöne Schwert schnitt und die hübsche Axt hackte.
»Die Fesseln sind geborsten«, rief er.
Und dann versank er im blutigen Sumpf.
35
Wolfsfraß
V ali erwachte im Nebel. Es war Tag, und der Mast warf lange Schatten wie die Wolken, wenn die Sonne hinter ihnen verschwindet. Die dunklen Finger bildeten sein schwarzes Geflecht auf grauem Hintergrund. Ab und zu durchbrach das Knarren des Schiffs die klamme Stille.
Er betrachtete seine Kleidung oder das, was noch von ihr übrig war: zerrissen und dunkel von Blut. Und er hatte einen seltsamen Geschmack im Mund – ebenfalls Blut. Er war benommen und konnte nicht klar denken, wie nach einer mächtigen Mahlzeit in der Nachmittagssonne.
»Bragi?« Keine Antwort. Seine Hand lag auf etwas Weichem. Er drehte sich um und schrie auf. Ein Mann, dessen Brustkorb zerfetzt und dessen Gliedmaßen gebrochen waren, starrte ihn mit leerem Blick an. Vali sprang auf. Jemand war neben ihm. Er erschrak und wollte sich schon mit einem Sprung in Sicherheit bringen, doch es war nicht nötig. Es war nur sein eigener Schatten, ein Nebelgespenst, das völlig real wirkte, obwohl nur die fahle Sonne es erschaffen hatte. Er sah sich um. Das Boot war voller Leichen, die auf grässliche Weise misshandelt und verstümmelt waren. Tote Augen glotzten ihn an, starre Gliedmaßen griffen nach ihm, Gedärm schlängelte sich vor seinen Füßen. Der Geruch des Todes stieg ihm in die Nase.
Die Toten waren überall, vom Heck bis zum Bug. Dann legte jemand ihm eine Hand auf die Schulter. Er drehte sich um und sah den Wolfsmann vor sich. Feileg, hager und bleich, hatte sich eine lange und tiefe Schnittwunde zugezogen, die vom Oberarm quer über die Brust lief. Vali wich einen Schritt zurück, stolperte über einen Toten und stürzte auf ihn. Angewidert wollte er sich schnell wieder aufrappeln. Der Wolfsmann packte ihn und half ihm hoch.
»Wie lange?«, fragte Vali.
»Eine Woche«, sagte der Wolfsmann.
»War ich wirklich eine ganze Woche bewusstlos?«
»Nicht bewusstlos«, erwiderte der Wolfsmann.
»Was dann?«
Der Wolfsmann betrachtete die Toten.
»Warst du das?«
»Nicht ich.«
»Warum hast du sie nicht über Bord geworfen?«
Feileg erwiderte Valis Blick.
»Ich hatte Angst vor dir«, gab der Wolfsmann zu.
Mit dieser Erklärung konnte Vali überhaupt nichts anfangen. Der Wolfsmann war ihm im Kampf weit überlegen, er konnte tun, was immer ihm beliebte.
»Warum hattest du Angst vor mir?«
»Du bist ein Wolf«, erklärte der Wolfsmann. »Ich musste mich zwischen den Toten vor dir verstecken.«
Vali konnte nicht verstehen, was Feileg damit meinte. Ihm war schwindlig, und das Tageslicht war ihm trotz des Nebels viel zu hell. Er betrachtete die Leichen. Es waren etwa zwanzig Dänen. Keiner hatte Anzeichen von Pfeilschüssen oder Schwertwunden. Alle Toten waren zerfetzt und zerrissen. Einem Mann fehlte das halbe Gesicht, so als wäre er von einem wilden Tier angegriffen worden und nicht in der Schlacht gefallen.
Vali konnte das Starren der Leichen in diesem unnatürlichen Licht nicht länger ertragen. Er sammelte sich für einen Moment, dann warf er sie alle über Bord ins Meer, nicht ohne ihnen die Schwerter und Börsen abgenommen zu haben. Es war eine langwierige, mühselige Arbeit. Vali war bald erschöpft und musste mehrmals innehalten, weil die Abneigung gegen diese Aufgabe die Oberhand zu gewinnen drohte. Feileg hatte wegen seiner Wunde starke Schmerzen und war keine große Hilfe. Nach und nach lichtete sich der Nebel, und einige Vögel ließen sich blicken – vor allem Möwen, aber auch einige Krähen. Der Anblick der Krähen ließ Vali hoffen. Sie waren demnach nicht sehr weit vom Land entfernt. Trotzdem machte er sich mehrmals die Mühe, sie zu verscheuchen. Hatten die Krähen die Leichen verstümmelt und sich wieder entfernt, als das Boot
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